TRANSFER VON KNOW-HOW
HOCH HINAUS: WENN STARTUPS DEN MITTELSTAND AM fORSCHUNGSFLUGHAFEN BEFLÜGELN
Der Forschungsflughafen im Norden Braunschweigs ist mit 3.700 Beschäftigten eines der innovativsten Wirtschafts- und Wissenschaftscluster Europas und fungiert als führendes Kompetenzzentrum für Mobilität, das sich auf Luft- und Raumfahrt, Mobilität/Automotive, Aviation, Rail, Zertifizierung und Elektromobilität konzentriert. Es vereint universitäre und private Forschungs- und Entwicklungskapazitäten über verschiedene Verkehrsträger hinweg.
In unserem AGV-Doppelinterview treffen das aufstrebende Tech-Startup PhySens und die etablierte OECON Holding & Consulting aufeinander. Der Forschungsflughafen als zentraler Knotenpunkt für intelligente Mobilität bildet die Kulisse für diesen spannenden Dialog zwischen Innovation und Fortschritt. Unser Interview gewährt Einblicke in die sich wandelnde Mobilitätslandschaft und die einzigartige Zusammenarbeit dieser beiden Unternehmenswelten. Willkommen zu einem Blick in die Zukunft der Mobilität und des Transfers am Forschungsflughafen.
AGV: Warum hat sich die OECON Unternehmensgruppe am Forschungsflughafen angesiedelt und welche Vorteile bringt das für Ihre Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten mit sich?
Günther Kasties: Die OECON hat sich bereits Ende der 90iger Jahre mit der Verkehrstelematik beschäftigt und aus meiner Tätigkeit im Luftfahrtbereich gab es gute Kontakte zu Firmen, die bereits am Forschungsflughafen ansässig waren, z. B. Aerodata und Simtec. Wir waren ja auch ein Startup und haben ein Umfeld gesucht, in dem sich unser Unternehmen gut entwickeln konnte. Wir haben dann gemeinsam, u. a. auch durch meine ehrenamtliche Tätigkeit im Forschungsflughafen e.V. und im GZVB e.V. (heute ITS mobility) mit vielen aktiven Akteuren dazu beigetragen, dass sich das Cluster Forschungsflughafen zu dem entwickelt, was es heute ist: ein Leuchtturm im Bereich der intelligenten und vernetzten Mobilität für alle Verkehrsbereiche. Aus der Geschichte und Entwicklung des Forschungsflughafens kann man sehr viel lernen.
AGV: Welche Synergien ergeben sich für PhySens aus der räumlichen Nähe zu anderen (mittelständischen) Unternehmen am Forschungsflughafen?
Henriette Struckmann: So lange sind wir noch gar nicht am Flughafen, d. h. hier sind wir derzeit im Aufbau unserer Kontakte. Grundsätzlich sind aber der persönliche Kontakt und der Austausch besonders hilfreich, z. B. dass wir einfach auf kurzen Wegen Feedback zu Ideen oder Projekten bekommen oder nach einer Einschätzung fragen können. Junge Unternehmen können sehr von Branchenkenntnis und Erfahrungen mittelständischer Unternehmen profitieren und lernen. Und deshalb sind wir sehr dankbar für Günthers Offenheit und sein großes Engagement, mit uns vieles zu besprechen und zu durchdenken und für seine Unterstützung. Das eröffnet uns Einblicke, die wir sonst nicht so leicht bekommen würden.
Das kann auch ganz praktische Seiten haben – bei Veranstaltungen hat er mich einfach mitgenommen und verschiedenen Leuten vorgestellt. Das ist für ein junges Unternehmen unglaublich wertvoll. In diese Gespräche wäre ich sonst nur schwer hineingekommen.
Auch das Empfangen von Kunden und Gästen wirkt professioneller, wenn wir sie hier am Forschungsflughafen begrüßen können. Das hinterlässt bei unseren Kunden und Kooperationspartnern einen sehr guten Eindruck. Deshalb sind wir sehr glücklich hier unsere Räume zu haben.
AGV: Wie gelingt es Ihrer Holding aus Forschungsgegenständen innovative Produkte zu entwickeln und erfolgreich Nischenmärkte zu erobern? Können Sie uns ein Beispiel für eine solche Produktentwicklung geben?
Günther Kasties: Eines unserer erfolgreichen Produktentwicklungen im Bereich e-call (europaweiter elektronischer Notruf im Fahrzeug) begann auch mit einem EU-Forschungsprojekt und der Kooperation mit Volkswagen. Wir haben schnell erkannt, dass es einen Bedarf an zertifizierten Testsystemen für e-call gibt und haben festgestellt, dass es im Markt keine Anbieter dafür gibt. Das war der Start für eine Erfolgsgeschichte, die uns heute zum Weltmarktführer in einer kleinen Nische macht.
AGV: Was befindet sich eigentlich alles auf dem Areal des Forschungsflughafens? In welche Richtung soll die zukünftige (Infrastruktur)-Entwicklung gehen?
Günther Kasties: Ich kann aus der Entwicklung der letzten 24 Jahre nur feststellen, dass wir alle gemeinsam viel erreicht haben, der Standort hat sich sehr gut entwickelt und wenn Sie heute die Hermann-Blenk-Straße abfahren, sehen Sie viele neue Gebäude, z. B. das Gebäude der Firma eves_it (in dem wir unsere Büros haben) und des Luftfahrt-Bundesamts (LBA) direkt gegenüber und im Westen auch eine neue, große Baustelle für das Fraunhofer Zentrum für Energiespeicher (ZESS). Hier wird nach Fertigstellung in gleich 3 Instituten an der Entwicklung und Umsetzung von zukünftigen Energiespeichern und Wasserstofftechnologien mit über 100 Mitarbeitern geforscht. Diese Investition am Standort Forschungsflughafen unterstreicht die Bedeutung dieses Standortes für die ganze Region.
Ich wünsche mir, dass nun weiter, z. B. beim Lilienthalquartier, investiert wird und wir neben der hochqualifizierten Wissenschaft und Forschung auch noch mehr Unternehmen und Startups für diesen Standort begeistern können, die Forschungsergebnisse hier in der Region in erfolgreiche Produkte und Dienstleistungen umsetzen.
AGV: Könnten Sie uns Einblicke in die Zusammenarbeit von PhySens mit Industriepartnern geben und dabei besonders auf erfolgreiche Kooperationen eingehen? Wie gestaltet sich der Austausch von Knowhow und Ressourcen?
Henriette Struckmann: Unsere Forschung und Entwicklung konzentriert sich stark auf innovative Sensortechnik. Wir sind eine Ausgründung des Instituts für Geophysik und extraterrestrische Physik der TU Braunschweig, wo es viel um High-Tech Magnetometer für Raumfahrtmissionen ging. Bei uns liegt deshalb natürlich ein Fokus auf der Magnetfeldsensorik, aber wir machen nicht nur ausschließlich das. Sehr vieles steht im Kontext Mobilität, insbesondere was unsere langfristigen Produkte und Projekte angeht.
Unser Kernbereich liegt in der Messtechnik und ist so aufgestellt, dass wir für verschiedenste Kunden ganzheitliche Konzepte für z. B. Anlagenüberwachung entwickeln und dann auch implementieren. Zum Teil passen wir dafür marktverfügbare Sensorik an und zum anderen Teil entwickeln wir dafür aber auch passgenau und bedarfsgerecht Sensorlösungen. Das ist immer abhängig vom Bedarf des Kunden und der Anwendung.
Außerdem sind wir im Bereich Bahntechnik aktiv. Es ist nicht ganz so präsent, aber Braunschweig ist ein starker Bahntechnik-Standort. Wir arbeiten derzeit an zwei langfristigen Projekten aus diesem Bereich, einmal für den fahrzeugseitigen Einsatz und einmal zur Überwachung von Bahninfrastruktur. Dabei konnten wir u. a. eine Kooperation mit einem Schweizer Unternehmen aufbauen, mit dem wir uns fachlich und technisch sehr gut ergänzen. So können Aufgaben geteilt werden und jeder steuert entsprechend seiner Kompetenzen etwas bei.
Wir sind eine Ausgründung aus der Physik, das heißt, die Fragen „Was passiert dort physikalisch? Und wie geht man an dieses messtechnische Problem heran?“ ist bei uns ganz stark verankert. Dieser Ansatz, zugrundeliegende Effekte ganzheitlich zu betrachten und entsprechend bei allen Schritten zu beachten, ist das Besondere bei uns: Wir entwickeln die Konzepte sehr bedarfsgerecht. Von PCB-Design, Bestückung und Fertigung, und dann auch die Softwarekomponente, dass die Daten, die man dabei sammelt, gebündelt, in dem Format wie sie der Kunde haben möchte, bei ihm ankommen.
Wir bieten auch ergänzend Datenvisualisierung und -analyse an. Dafür haben wir eine eigene Plattform entwickelt, die wir im Rahmen dieser Komplettsysteme verwenden und vertreiben. Aktuell arbeiten wir z. B. an einem sehr spannenden Projekt für ein Unternehmen aus Norddeutschland, für die neue Vega-C-Trägerrakete von Arianespace, große Frästeile fertigt. Für dieses Unternehmen haben wir ein Überwachungssystem zur Qualitätssicherung entwickelt, das demnächst ausgeliefert wird. Das umfasst neben dem grundlegenden Konzept verschiedenste Sensoren, die wir sowohl angepasst und als auch selbst entwickelt haben. Jetzt sind wir dabei, die letzten Komponenten zu integrieren und demnächst zu montieren.
AGV: Welche persönliche Einschätzung haben Sie hinsichtlich der Idee eines Boarding-Houses für Forschende und autonomer Shuttles am Forschungsflughafen? Sehen Sie diese Ansätze als vielversprechend für die zukünftige Entwicklung und Attraktivität des Standorts?
Günther Kasties: Es gibt bereits zahlreiche innovative Ansätze und konkrete Projekte im Mobilitätscluster, ITS mobility macht das genauso wie das DLR, die TU Braunschweig und das NFF (Niedersächsisches Forschungszentrum Fahrzeugtechnik). Als Teil dieses größeren Kontexts haben sie eine klare Vision, den Forschungsflughafen weiterzuentwickeln. Wir sind ein kleiner Teil des Gesamtgebildes.
Persönlich betrachtet, wünsche ich mir, dass wir mehr Dinge machen, die „zeigbar“ sind, dass unsere Entwicklungen greifbarer werden, für die breite Bevölkerung zugänglich sind und mehr Aufmerksamkeit erhalten.
Die Idee eines autonomen Shuttles auf der Hermann-Blenk-Straße könnte hier einen interessanten Beitrag leisten. Technisch relativ gut umsetzbar und in einer Umgebung mit wenig Fußgängerverkehr könnte dies nicht nur die Innovationskraft des Standorts unterstreichen, sondern auch Menschen direkt ansprechen, die vor Ort einfach mal eine Testfahrt machen können. Als wir hier gestartet sind, gab es zum Beispiel keine gute Busverbindung hierher; die gibt es inzwischen, weil wir uns dafür eingesetzt haben.
Es gibt viele weitere Überlegungen, von der Verbesserung der Anbindung mit einem Shuttle für Ankommende vom Bahnhof bis zu verstärkten Bemühungen, die Forschungseinrichtungen für die Öffentlichkeit zugänglicher zu machen.
Ich plädiere dafür, dass wir uns stärker öffnen, mehr Veranstaltungen von Forschungseinrichtungen für verschiedene Zielgruppen anbieten und insbesondere jungen Menschen die Faszination für Technik und Innovation näherbringen. Das sollten wir intensivieren und wäre ein wichtiges Anliegen für solch ein Cluster. Denn den Flughafen kennen viele, aber was hier alles Drumherum passiert, das ist wenig bekannt.
Die Konzeption eines Boarding-Houses ist vielversprechend. Es bietet die Möglichkeit, die Entwicklung hin zu einem Campus zu intensivieren, der speziell als Umfeld für aufstrebende Startups und Studierende konzipiert ist. Ziel ist es, dem Standort mit jungen Startups und Studierenden mehr Dynamik und Lebendigkeit zu verleihen.
Die Herausforderungen bei der Umsetzung solcher Projekte sind bekannt, insbesondere im Hinblick auf behördliche Auflagen. Dennoch sehe ich es als lohnenswert an, gemeinsam daran zu arbeiten, die Hürden zu senken und den Forschungsflughafen als einen lebendigen Ort der Innovation und Zusammenarbeit zu positionieren.
AGV: Wie sieht die strategische Ausrichtung Ihrer Holding im Kontext zukunftsfähiger Mobilität aus, und welche Rolle spielt der Forschungsflughafen dabei in Bezug auf Innovationen und Entwicklungen im Bereich der Mobilität?
Günther Kasties: Innovation ist schon immer unser Thema gewesen. Die Oecon Products&Services GmbH arbeitet neben dem Kerngeschäft (e-call) auch an innovativen Forschungsprojekten mit, u. a. an Gaia-X für Mobility Data Space. Das ist ein Thema, was wieder mit dem Forschungsflughafen zu tun hat, weil hier am NFF, an der TU Braunschweig oder auch beim DLR auch an diesen Themen geforscht wird. Ziel von Gaia-X ist der Aufbau einer europäischen interoperablen digitalen Dateninfrastruktur für sichere, datenbasierte Geschäftsmodelle.
Diese Themen werden u. a. entscheiden, welche Rolle Europa in der zukünftigen digitalen Welt spielen kann.
Ein weiteres Zukunftsthema ist die automatisierte Steuerung von Drohnen (UAV). Hier hat Oecon gemeinsam mit der Feuerwehr Braunschweig in einem vom Land Niedersachsen geförderten Projekt (EUFOS) (www.volaer.io) eine Drohnenmanagement-Software entwickelt und erfolgreich demonstriert. Die Anforderung seitens der Feuerwehr bestand darin, dass die Drohne bei Eingang eines Alarms automatisch startet. Ein Beispiel: Bei einem Unfall auf der A2 wird die Drohne bereits automatisch aktiviert. Sie fliegt zum Unfallort, erstellt aus der Vogelperspektive ein Lagebild und überträgt das Videomaterial direkt an die Einsatzkräfte. Dadurch erhalten sie frühzeitig wichtige Informationen, wie die Art des Unfalls, das Vorhandensein von Gefahrstoffen usw. Dies ermöglicht eine präzise Lageeinschätzung und hilft, die benötigten Ressourcen effizient zu planen.
Wir haben hochqualifizierte Forscher und Forscherinnen, beim DLR, an der TU, am NFF, und wir müssen sehen, dass wir hier am Standort aus diesen Forschungsergebnissen Produkte machen, die optimalerweise hier auch am Standort entwickelt und erfolgreich umgesetzt werden. Es ist entscheidend, sich für solche Gelegenheiten zu öffnen und niedrigschwellige Kooperationsmöglichkeiten zu schaffen. Eine offene und kooperative Haltung erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass der Standort zu einem Anziehungspunkt für vielfältige Akteure wird.
AGV: Haben Sie einen Wunsch oder Forderungen, wie Ausgründungen der TU Braunschweig/Startups am Forschungsflughafen noch besser unterstützt werden können? Wo sehen Sie weitere Kooperationsbedarfe?
Henriette Struckmann: Die Stadt Braunschweig und insgesamt die Region verfügen über sehr gute und etablierte Startup-Programme und -Förderungen. Wir haben z. B. MO.IN und W.IN der Braunschweig Zukunft GmbH durchlaufen und können die Programme absolut empfehlen.
In unserer Wahrnehmung könnten die einzelnen Player in der Region aber noch mehr zusammenarbeiten, um das Gesamtsystem zu verbessern. Der Zugang zueinander, zu Netzwerken und Partnern aus Industrie, Hochschule und Startup könnte offener werden. Ein Leuchtturm für Startups im Luft- und Raumfahrtbereich sind z. B. Oberpfaffenhofen oder Bremen, die haben sehr viele innovative junge Unternehmen. Aber auch die Weitsicht, mit der die TU München und die RWTH Aachen Wissenstransfer und Gründungen im universitären Kontext angehen, ist beeindruckend: Insgesamt sind dort alle top vernetzt, von der Gründungsberatung über Schutzrechte hin zu sämtlichen rechtlichen Angelegenheiten, Workshops und Finanzierungen. Die verschiedenen Akteure greifen nahtlos ineinandergreifen und arbeiten gut zusammen. Vielleicht könnte diese Art der Zusammenarbeit eine Inspiration für unseren Standort sein.
Kurzfristig wären einigermaßen kostengünstige Immobilien in Braunschweig, insbesondere für Startups, aus unserer Sicht wichtig. Für den Standort am Flughafen wäre eine stärkere Anbindung mit öffentlichen Verkehrsmitteln wünschenswert, z. B. in Form einer Zuganbindung oder einer verbesserten und häufigeren Busverbindung, insbesondere um die Attraktivität für Werkstudierende und Absolventen zu steigern. Dieser Bedarf wurde bei uns bereits mehrfach bei der Personalsuche deutlich, da die Anreise ohne eigenes Fahrzeug als wenig praktikabel empfunden wird.
Frau Struckmann, Herr Kasties, herzlichen Dank für das Interview!
Henriette Struckmann hat Technologie-orientiertes Management (M.Sc.) an der TU Braunschweig studiert und ist Mit-Gründerin und Geschäftsführerin der PhySens GmbH. PhySens ist eine Ausgründung des Instituts für Geophysik und extraterrestrische Physik der TU Braunschweig, wo es durch das EXIST Gründungsstipendium des BMWK gefördert wurde. Während dessen wurde zum 01.01.2021 das Unternehmen gegründet.
Günther Kasties hat an der TU Braunschweig Luft-und Raumfahrttechnik studiert und hat nach mehreren beruflichen Stationen 1999 die Leitung der OECON GmbH (heute OECON Holding & Consulting GmbH) als geschäftsführender Gesellschafter übernommen. Ehrenamtlich ist er seit vielen Jahren im Vorstand von ITS mobility e.V. tätig.