Urteil stärkt Arbeitgeber: Krankheit muss im Zweifel nachgewiesen werden

Die AGV-Rechtstipps

27.09.2021

Das Bundesarbeitsgericht hat die Rechte von Arbeitgebern gestärkt, eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ihrer Arbeitnehmer infrage zu stellen. Das gilt speziell für eine Krankschreibung, die zeitlich der Kündigungsfrist entspricht. Was war genau passiert? Eine Mitarbeiterin hatte direkt nach der Kündigung eine Krankschreibung bis zum Auslaufen der Kündigungsfrist vorgelegt. Der Fall wurde von Martin Peßara, Rechtsanwalt des AGV Region Braunschweig e.V., bis vor die höchste Instanz in der Arbeitsgerichtsbarkeit getragen. Wir haben ihn zum Interview gebeten und seine Einschätzung eingeholt.

 

Herr Peßara, Sie haben vor dem Bundesarbeitsgericht (BAG) in einem bundesweit wahrgenommenen Fall gewonnen. Es ging um Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall aus dem Jahr 2019. Sie hatten zwei Instanzen zuvor nicht gewonnen. Was hat Sie dennoch motiviert, dann vor das Bundarbeitsgericht zu ziehen?

 

Ich will ehrlich sein: In erster Linie das Mitgliedsunternehmen selbst. Das Mitgliedsunternehmen war bei dem vorliegenden Sachverhalt nicht ohne Weiteres bereit Entgeltfortzahlung zu leisten, auch nicht, nachdem wir bereits vor dem Arbeitsgericht und vor dem Landesarbeitsgericht verloren hatte. Ich hatte bei dem vorliegenden Sachverhalt Verständnis für die Haltung des Mitgliedsunternehmens, wusste aber gleichzeitig, dass es für einen Arbeitgeber äußerst schwierig ist den Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu erschüttern. Andererseits habe ich festgestellt, dass es höchstrichterlich zum Thema der Erschütterung des Beweiswertes einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung fast keine Entscheidungen gibt. Zudem wies der Sachverhalt einige Besonderheiten auf. Nicht nur gab es die zeitliche Auffälligkeit, dass die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung passgenau den Zeitraum der Restlaufzeit des Arbeitsverhältnisses nach Eigenkündigung umfasste. Die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung entsprach zudem nicht den Vorgaben der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie. Deswegen sah ich Ansatzpunkte, die Nichtzulassungsbeschwerde und später die Revision nachvollziehbar begründen und aufzeigen zu können, dass die höchstrichterliche Klärung bestimmter Rechtsfragen anhand dieses Falles einen „juristischen Mehrwert“ über den eigentlichen Streitfall hinaus haben könnte.

 

Das BAG hat in seiner Pressemitteilung formuliert: „Kündigt ein Arbeitnehmer sein Arbeitsverhältnis und wird er am Tag der Kündigung arbeitsunfähig krankgeschrieben, kann dies den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung insbesondere dann erschüttern, wenn die bescheinigte Arbeitsunfähigkeit passgenau die Dauer der Kündigungsfrist umfasst.“ Was folgt daraus für Arbeitgeber?

 

Für eine Bewertung des Urteils und möglicher Auswirkungen ist es noch zu früh. Das Urteil liegt in schriftlicher Form samt seinen Gründen bisher nicht vor. Der Pressemitteilung des BAG und auch dem Gang der Revisionsverhandlung kann aber wohl entnommen werden, dass bestimmte zeitliche Parallelitäten zwischen der Dauer einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung und der Restlaufzeit eines gekündigten Arbeitsverhältnisses nach Auffassung des BAG geeignet sein können, den Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen zu erschüttern. Über den hier entschiedenen Fall hinaus könnte sich daraus vielleicht eine Veränderung der Rechtsanwendung durch die Arbeitsgerichte ergeben. Denn meiner Erfahrung nach sind die Arbeitsgerichte bisher sehr zurückhaltend darin gewesen solche zeitlichen Auffälligkeiten als ausreichend für die Erschütterung des Beweiswertes einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung anzusehen. Vielleicht ändert sich das zukünftig ein wenig.

 

Gilt dieses Ergebnis nur bei Eigenkündigungen von Arbeitnehmern oder auch bei arbeitgeberseitigen Kündigungen?

 

Auch das lässt sich ohne die Urteilsgründe zu kennen, noch nicht einordnen. Wir werden die Erwägungen des BAG, die es zu seiner Feststellung veranlasst hat, wonach der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung insbesondere dann erschüttert sein kann, wenn die bescheinigte Arbeitsunfähigkeit passgenau die Dauer der Kündigungsfrist nach Eigenkündigung umfasst, abwarten müssen. Für die Arbeitgeberseite wäre es natürlich „schön“, wenn sich aus den Erwägungen des BAG ableiten ließe, dass diese Feststellung nicht nur Fälle der Eigenkündigung des Arbeitnehmers betrifft, sondern auch in anderen Fällen zeitlicher Koinzidenz zwischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung und der Restlaufzeit eines Arbeitsverhältnisses herangezogen werden kann. In Frage kämen hier z.B. Kündigungen durch den Arbeitgeber oder aber Mitteilungen des Arbeitgebers über die Nichtverlängerung eines befristeten Arbeitsverhältnisses.

 

Kann man auch für Fälle, in denen die Arbeitsunfähigkeit nicht passgenau mit der Kündigungsfrist einhergeht, diese Entscheidung heran ziehen?

 

Welche Bedeutung der „Passgenauigkeit“ zukommt, muss abgewartet werden. Auch insoweit kennen wir die Erwägungen des BAG bisher nicht. Ein „ernsthafter Zweifel“ wird schwer zu begründen sein, wenn ein Arbeitnehmer zwar unmittelbar nach Kündigung krankgeschrieben wird, die Krankschreibung jedoch nicht bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses reicht und der Arbeitnehmer nach Ablauf der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für die Restlaufzeit des Arbeitsverhältnisses wieder zur Arbeit erscheint. Auch in Fällen, in denen nach Kündigung erst einmal einige Zeit weiter gearbeitet wird und eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erst zu einem späteren Zeitpunkt – wenn auch vielleicht für die Restlaufzeit des Arbeitsverhältnisses – vorgelegt wird, wird wohl auch zukünftig ein juristisch „ernsthafter Zweifel“ kaum begründbar sein. Anders hingegen vielleicht die Fälle, in denen die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung unmittelbar nach Kündigung vorgelegt wird und deren Laufzeit nicht nur der Restlaufzeit des Arbeitsverhältnisses entspricht, sondern über sie „hinausschießt“; auch in solch „überschießenden“ Fällen kann vielleicht ein „ernsthafter Zweifel“ juristisch begründet werden, insbesondere dann, wenn keine unmittelbare Anschlussbeschäftigung vorliegt. Wir werden aber nicht erwarten können, dass das Urteil des BAG zu all diesen Konstellationen Antworten enthält. Letztlich geht es auch immer um die Entscheidung im Einzelfall. Wichtig scheint mir erst einmal zu sein, dass die Feststellung einer zeitlichen Koinzidenz zwischen der Restlaufzeit des Arbeitsverhältnisses und einer behaupteten Arbeitsunfähigkeit wohl als tauglich anerkannt wurde ernsthafte Zweifel an der bescheinigten Arbeitsunfähigkeit begründen zu können.

 

Was sind bis dato typische Konstellationen gewesen, die den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttert haben?

 

Die praxisrelevantesten „Klassiker“ in diesem Bereich scheinen mir einerseits Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen zu sein, die Arbeitsunfähigkeitszeiten bescheinigen, die mehrere Tage vor dem Datum des Erstellens der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung beginnen, andererseits die Fälle angekündigter Krankheit oder von Nebentätigkeiten oder Aktivitäten während der Dauer der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, die mit einer Erkrankung nur schwer in Einklang zu bringen sind. Auch sehr häufige Arztwechsel innerhalb kurzer Zeit und innerhalb desselben medizinischen Fachbereiches spielen in der Praxis ab und an eine Rolle und können geeignet sein, den Beweiswert von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen zu erschüttern. Aber es gibt natürlich weitere Sachverhaltskonstellationen, die geeignet sind, „ernsthafte Zweifel“ zu begründen.

 

Was raten Sie Arbeitgebern, die Zweifel daran haben, ob der Arbeitnehmer tatsächlich krank ist?

 

Diese Frage lässt sich schwer beantworten. Bei weitem nicht jeder Zweifel, der einen Arbeitgeber hinsichtlich der Arbeitsunfähigkeit eines Arbeitnehmers „beschleicht“, ist auch geeignet „ernsthafte Zweifel“ im juristischen Sinne zu begründen. Deshalb ist es sinnvoll, sich juristischen Rat, zum Beispiel beim AGV einzuholen, bevor man sich als Arbeitgeber ggf. entscheidet keine Entgeltfortzahlung trotz vorliegender Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu leisten. Denn der Arbeitgeber muss in diesen Fällen damit rechnen vom Arbeitnehmer auf Entgeltfortzahlung vor dem Arbeitsgericht verklagt zu werden. Selbst wenn es dem Arbeitgeber dann gelingt das Gericht von einer Erschütterung des Beweiswertes der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu überzeugen, bedeutet das für den Arbeitgeber noch nicht, dass er deshalb automatisch keine Entgeltfortzahlung leisten muss. Es bleibt dem Arbeitnehmer nämlich unbenommen zu versuchen, die von ihm behauptete Arbeitsunfähigkeit vor Gericht anders zu beweisen als durch Vorlage der – im Beweiswert erschütterten – Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Hierzu kann er insbesondere den behandelnden Arzt von seiner Schweigepflicht entbinden und als Zeugen benennen. Der Arzt wird dann ggf. vom Gericht als Zeuge zur Erkrankung des Arbeitnehmers befragt. Gelingt dem Arbeitnehmer auf diesem Weg der Beweis seiner zur Arbeitsunfähigkeit führenden Erkrankung für den Zeitraum der Krankmeldung, wird der Arbeitgeber Entgeltfortzahlung leisten müssen. Ob dieser Zeugenbeweis dem Arbeitnehmer durch den behandelnden Arzt gelingt, hängt dabei wohl insbesondere von Art und Dauer der (behaupteten) Erkrankung ab. Eine aufgrund objektiv erhobener ärztlicher Befunde festgestellte Erkrankung, ggf. mit weiteren Arztterminen während der Dauer der Krankschreibung, ist sicherlich sehr „beweisstark“. Beruht die ärztliche Feststellung der behaupteten Arbeitsunfähigkeit hingegen ohne objektive Befundung nur auf den Angaben des Arbeitnehmers gegenüber dem Arzt und erfolgte die Krankschreibung ggf. ohne weitere Konsultationstermine und ohne Therapie- bzw. Behandlungsansatz und gleich für einen längeren Zeitraum, dürfte dem Arbeitnehmer der Beweis einer zur Arbeitsunfähigkeit führenden Erkrankung und deren geltend gemachter Dauer über den „Arztbeweis“ schwer fallen.

Der Arbeitgeber steht deshalb in einem gewissen Prozessrisiko, sofern er sich entscheidet, keine Entgeltfortzahlung zu leisten. Nur wenn er im Fall der Klage des Arbeitnehmers auf Entgeltfortzahlung den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttern kann und es dem Arbeitnehmer gleichzeitig nicht gelingt, seine Arbeitsunfähigkeit anders zu beweisen, wird der Arbeitgeber im Ergebnis keine Entgeltfortzahlung leisten müssen. Diese Fälle sind sicherlich selten, kommen aber durchaus vor. Verliert der Arbeitgeber vor Gericht, zahlt er nicht nur die Entgeltfortzahlung nach, sondern zudem zumindest die – zumeist nicht sehr hohen – Gerichtskosten und ggf. die Kosten seines eigenen Rechtsbeistandes; die Kosten der Rechtsanwalts des Arbeitnehmers hat er hingegen erstinstanzlich nicht zu tragen.

Ergänzend möchte ich darauf hinweisen, dass ein Arbeitgeber natürlich auch versuchen kann, die Zweifel am Bestehen einer Arbeitsunfähigkeit über den Medizinischen Dienst der Krankenkassen zu klären. In vielen Fällen ist ein solcher Weg meines Erachtens jedoch untunlich. Denn der Medizinische Dienst überprüft nur bestehende Arbeitsunfähigkeiten; er erstellt in diesem Zusammenhang keine Gutachten über in Zweifel gezogene Arbeitsunfähigkeiten, wenn diese nicht mehr vorliegen bzw. nicht mehr vorliegen sollen. Ab dem Zeitpunkt, ab dem sich der Arbeitnehmer wieder arbeitsfähig meldet, endet ein eventuell bereits begonnenes Überprüfungsverfahren des Medizinischen Dienstes, ggf. dann eben auch ohne Ergebnis. Berücksichtigt man, dass ein entsprechender Prüfantrag vom Arbeitgeber an die Krankenkasse des Arbeitnehmers zu richten ist, diese dann ggf. den Medizinischen Dienst beauftragt, der Medizinische Dienst dann die Behandlungsunterlagen beim behandelnden Arzt anfordern muss, der behandelnde Arzt diese dann an den Medizinischen Dienst schickt und der Medizinische Dienst erst dann mit der Prüfung beginnen kann und vielleicht noch eine Untersuchung des Arbeitnehmers durch den Medizinischen Dienst durchgeführt wird, wird deutlich, dass das dauert. Häufig wird der Arbeitnehmer dann schon wieder gesund sein bzw. sich nicht mehr auf eine (behauptete) Arbeitsunfähigkeit berufen und wieder zur Arbeit kommen.

 

 

Wann werden die Urteilsgründe vorliegen?

 

Arbeitsgerichte, auch das Bundesarbeitsgericht, teilen nicht mit, wann nach der Verkündung des Urteils das Urteil mit vollständigen Gründen den Parteien übersandt wird. Die durchschnittliche Verfahrensdauer der erledigten Verfahren vor dem BAG betrug im Jahre 2020 sechs Monate und neun Tage. Das ist der niedrigste Stand seit dem Jahre 2004. Bei Sachentscheidungen des 5. Senates des Bundesarbeitsgerichts lagen zwischen Urteilsverkündung und Veröffentlichung zuletzt rund 3 Monate. Vielleicht haben wir das vollständige Urteil dann Mitte Dezember.

 

Können aus Ihrer Sicht noch weitere Hinweise zum Thema „Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit“ in dem Urteil stehen?

 

Vielleicht. Wir hatten die Revision bzw. die vorausgegangene Nichtzulassungsbeschwerde auch damit begründet, dass der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung auch deshalb erschüttert sei, weil die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung gegen Regelungen der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie verstieß. Zudem beruhte die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung auf einer bloßen, nicht objektivierbaren Symptombeschreibung der Arbeitnehmerin, so dass wir die Auffassung vertraten, dass einer solchen „subjektiven Symptomkrankschreibung“ bereits von vornherein kein Beweiswert zukommt, da die entsprechende ärztliche Feststellung lediglich auf der eigenen Erklärung der Arbeitnehmerin beruhte. Das BAG hat in seiner Entscheidung dann wohl in erster Linie auf die passgenaue zeitliche Koinzidenz zwischen Dauer der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung und Restlaufzeit des Arbeitsverhältnisses nach Eigenkündigung abgestellt. Ob das Urteil auch Ausführungen zu den weiteren Fragen enthält, bleibt abzuwarten.