In einem offenen Brief haben sich die Unternehmen der Region Braunschweig-Wolfsburg an Ministerpräsident an Stephan Weil gewandt. Sie finden das Schreiben und die Unterzeichner im Folgenden. Der AGV Region Braunschweig hat gemeinsam mit der Kooperationsinitiative Maschinenbau (KIM) die Organisation übernommen. Wenn Sie den Offenen Brief ebenfalls unterzeichnen möchten, dann senden Sie eine E-Mail mit Ihrem Logo an news@agv-bs.de.
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Weil,
in den letzten Wochen haben sich bereits zahlreiche Wirtschaftsverbände und Interessensvertretungen an die Politik gewendet, um auf die dramatische Situation angesichts explodierender Energiekosten hinzuweisen. Das sogenannte dritte Entlastungspaket macht allerdings deutlich, dass diese Appelle noch nicht ausreichten, um politische Antworten zur Entlastung unserer Wirtschaft zu finden. Wir wenden uns deswegen nun nicht nur als Arbeitgeberverband Region Braunschweig und Kooperationsinitiative Maschinenbau e.V. als weitere von vielen Verbänden an Sie. Wir unterschreiben diesen Brief ganz bewusst persönlich als Unternehmens- und Arbeitnehmervertretungen unserer Wirtschaftsregion an Sie als Ministerpräsident des Landes Niedersachsen und auch als gewichtige Stimme in der SPD-Bundespartei.
In immer mehr Betrieben enden bestehende Lieferkontrakte für Strom und Gas. Die Entwicklung der Gasversorgung war seit Kriegsbeginn schmerzhaft, aber zumindest absehbar, wohingegen sie alle Betriebe beim Strom in unvorstellbarer Weise überrollt. Manche Betriebe erfahren über Nacht, dass ihre bisherigen Lieferverträge wegen einer Insolvenz des Versorgers aufgekündigt sind. Längst gibt es keine echte Anbieterauswahl mehr. Selbst jahrzehntelange Bestandskunden regionaler Energieversorger erhalten keine Angebote mehr für eine weitere Belieferung. Dort wo eine Belieferung möglich ist, wird von Unternehmen mit jahrzehntelanger Kundenhistorie Vorkasse verlangt, weil die Energieversorger selbst erhebliche Liquiditätsherausforderungen haben. Diese Unsicherheiten schlagen sich auf den Strommärkten deutlich nieder und so zahlen Unternehmen mit auslaufenden Lieferkontrakten derzeit den zehn- bis fünfzehnfachen Preis gegenüber dem Vorjahr. Dabei waren die Energiekosten Deutschlands schon vor Beginn des Angriffskrieges Russlands die zweithöchsten der Welt und haben die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft stark belastet. Andere europäische Länder haben in der aktuellen Krise längst reagiert und die Kostenanstiege bei Strom und Gas für Unternehmen zumindest eingebremst.
Keine Frage – der grausame Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine erfordert unsere Solidarität und die Unterordnung unternehmerischer Interessen. Dieser Verantwortung sind sich die Unterzeichner dieses Briefes mehr als bewusst. Doch gerade deswegen darf man nicht tatenlos zusehen, wie neben dem Gaspreis auch der Strompreis zum Druckmittel des Kremls auf unsere Wirtschaft wird.
Wir erleben eine Politik, die mit Formelkompromissen zwar Kosten von Kernkraftwerken verlängert, aber deren Strommengen nicht abnimmt. Das Merit-Order-Verfahren ist zwar längst als Ausgangspunkt der unverhältnismäßigen Strompreissteigerungen ausgemacht, aber es erfolgt seit Wochen keine Anpassung des Verfahrens oder eine Preisdeckelung oder Begrenzung des zur Stromproduktion eingesetzten Gases. Steuern und Abgaben auf Strom und Gas gehören in Deutschland bekannterweise zu den höchsten der Welt. Doch eine sofortige Befreiung aller Steuern und Abgaben auf ein europarechtlich notwendiges Minimum ist nicht ernsthaft in der politischen Diskussion.
Wir können deswegen nur vermuten, dass die Ernsthaftigkeit dieser Krise in der Politik noch nicht angekommen ist oder man hofft, dass die Unternehmen sich irgendwie selbst zu helfen wissen. Doch glauben Sie uns: Bei historisch hohen Energiekosten sind mögliche Effizienz- und Einsparpotentiale viel zu klein, um echte Lösungsansätze zu bieten. Eine Steigerung des Autarkiegrades in der Energieversorgung ist sicher mittelfristig anstrebenswert, aber kurzfristig ebenfalls nicht möglich. Netzbetreiber brauchen derzeit Monate, um die Einspeisung neuer Solaranlagen von Unternehmen zu ermöglichen, Genehmigungsverfahren für unternehmenseigene Windkraftanlagen dauern noch länger und Lieferengpässe und Fachkräftemangel verzögern zusätzlich den Um- bzw. Aufbau von unternehmenseigener Energieerzeugung. Letztere kann für Gewerbebetriebe ohnehin nur eine Ergänzung darstellen, angesichts schwankender Erträge aus der erneuerbaren Energie und einer fehlenden Strategie zum flächendeckenden Ausbau großer Speicher.
Hinzu kommt, dass unsere Unternehmen nach den Auswirkungen der Corona-Pandemie, den massiven Verwerfungen in Lieferketten und den damit verbundenen Preissteigerungen ohnehin erheblich angeschlagen sind. Wir kommen eben nicht aus einer Phase der Stärke in diese Energiepreisexplosion, sondern aus einer anhaltenden Dauerkrise.
Unsere Unternehmen leben dabei von Planbarkeit! Zwischen Bestelleingang und Auslieferung liegen naturgemäß häufig mehrere Monate oder gar Jahre. Mit den Preissteigerungen im Materialeinkauf und nun noch explodierenden Energiekosten sind eine Vielzahl einst lukrativer Aufträge in der Auslieferung dieser Tage höchst defizitär. Dabei haben wir weder Sonderkündigungsrechte noch Umlagemöglichkeiten wie sie für Energieversorger beschlossen sind. Als öffentlicher Auftraggeber wissen Sie nur zu gut, wie wichtig Ihnen Kostenplanbarkeit bei Ausschreibungen ist. Als Unternehmer wissen wir aber kaum, welcher Schneeballeffekt an Kostensteigerungen durch steigende Energiepreise bei Vorprodukten womöglich in den kommenden Monaten auf uns wartet. Diese Ungewissheiten sind pures Gift für die wirtschaftliche Entwicklung.
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Weil, während die Politik und Ihre Landesregierung im Zuge der Corona-Pandemie zahlreiche Instrumente zur Stabilisierung unserer Wirtschaft herangezogen haben, erleben wir den politischen Betrieb nun vor allem als Beobachter der steigenden Strompreise.
Bitte ergreifen Sie das Heft des Handelns und nutzen Sie die Möglichkeiten der Politik, um massive Folgen für die niedersächsische Wirtschaft abzuwenden. Wir erkennen, dass viele der genannten Punkte von bundespolitischer Bedeutung sind, wissen aber auch um Ihr Gewicht in der regierungstragenden Bundes-SPD.
Wir dürfen keine weitere Zeit verlieren! Schon innerhalb der letzten Wochen haben zahlreiche Betriebe ihre Produktion eingestellt oder stark verringert, weil ihnen die wirtschaftliche Tragfähigkeit genommen wurde. Nach der Corona-Pandemie wollten wir uns bemühen, Lieferketten zu verkürzen. Nun bleibt als einzige Überlebenschance für viele Betriebe, die Produktionsprozesse ins Ausland zu verlagern. Doch ob Stilllegung oder Verlagerung: Uns droht eine nie dagewesene Welle der Deindustrialisierung! Dieser Tage stellen sich wirtschaftliche Weichen, die für Jahre nicht umkehrbar wären und nachhaltigen Schaden für Niedersachsen bedeuten würden. Handeln Sie, bevor es zu spät ist!
Für einen Dialog stehen wir jederzeit zur Verfügung.
26.09.2022