GEMEINSAM STARK
WIE ARBEITSMÖGLICHKEITEN FÜR GEFLÜCHTETE iNTEGRATION FÖRDERN UND DIE wIRTSCHAFT STÄRKEN
Durch die Integration von geflüchteten Arbeitskräften eröffnen sich vielversprechende Perspektiven zur Stärkung der Fachkräftesicherung. Die zunehmende Bedeutung geflüchteter Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf dem deutschen Arbeitsmarkt ist deutlich erkennbar. Durch gezielte Maßnahmen zur umfassenden Integration und Qualifizierung können diese engagierten Arbeitskräfte langfristig zu einer wesentlichen Säule in der Sicherung von qualifizierten Arbeitskräften heranwachsen.
Der AWO-Bezirksverband Braunschweig sieht in der Integration von geflüchteten Menschen in den kommenden Jahren eine der Hauptaufgaben der gesamten Gesellschaft und steht sowohl geflüchteten und zugewanderten Menschen als auch Unternehmen mit vielfältigen Projekten und Dienstleistungen zur Seite.
Im Interview teilt Rifat Fersahoglu-Weber, Vorsitzender des Vorstandes des AWO Bezirksverbands Braunschweig e. V., seine Einblicke und Perspektiven, darunter die Unsicherheiten, die bei Unternehmen auftreten können, die Vorteile multikultureller Teams, mutige Herangehensweisen und die Rolle der „Start-Guides“ in diesem Kontext. Er spricht darüber, wie berufliche Perspektiven nicht nur zu nachhaltiger Teilhabe an der Gesellschaft führen, sondern auch individuelle Selbstbestimmung ermöglichen – und darüber, wie man auf unterschiedlichen Wegen gemeinsame Ziele erreichen kann.
Interview + Redaktion: Alice Hossain/Fotos: Ela Walentek
AGV: Welche Erfolgsgeschichten können Sie uns über die gelungene Integration von Geflüchteten ins Arbeitsleben erzählen und wie haben diese Mitarbeitenden die Unternehmen bereichert?
Rifat Fersahoglu-Weber (RFW): Unternehmen und geflüchtete Menschen finden auf ganz unterschiedlichen Wegen zusammen. Erfolgsgeschichten gibt es beim AWO-Bezirksverband bereits seit langer Zeit, da wir uns als sozialwirtschaftliches Unternehmen an genau diesen Schnittstellen bewegen. Ein Bereich davon ist die Migrationsarbeit, bei der es darum geht, zugewanderte Menschen zu integrieren. Seit einigen Jahren richtet sich der Blick verstärkt darauf, Zugewanderte oder Geflüchtete in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren.
Als AWO haben wir einen großen Vorteil: Wir sind über unsere Migrations-Beratungsstellen nah an den Menschen, sie kommen als erstes zu uns und erwarten entsprechende Hilfestellungen. Außerdem pflegen wir sehr gute Beziehungen zu den regionalen Unternehmen und führen das von Bundesseite geförderte Programm „AWO-Start-Guide“ – vorher bekannt unter dem Begriff „Integrationsmoderatoren“ – durch.
Mit dem „Start-Guide“ bringen wir Menschen, die sich qualifizieren möchten und die nach Arbeit suchen, mit Unternehmen zusammen. Ich bin der festen Überzeugung, dass Arbeit die beste Möglichkeit ist, sich in eine Gesellschaft zu integrieren. So wird man ein Teil der Gesellschaft. Die Integration von geflüchteten Menschen und Zugewanderten durch berufliche Eingliederung bewirkt zum einen eine Verstärkung des individuellen Empfindens der gesellschaftlichen Zugehörigkeit und der eigenen Relevanz. Zum anderen stellt die vergleichsweise rasche Anerkennung für erwachsene Zugewanderte einen signifikanten Faktor dar. Diese Maßnahme dient darüber hinaus als Schutzmechanismus, der das Risiko von Desintegration und potenziellen Abwegen verringert, indem eine zeitnahe Einbindung in Arbeitsprozesse und Gesellschaft erreicht wird.
Beispiele für Integration – „Aktive Begleit- und Unterstützungsrolle“
Akademiker mit einem hohen Bildungsniveau kommen ebenfalls hierher; wir haben in den eigenen Reihen viele Beispiele. Als Betreiber des größten psychiatrischen Krankenhauses in Niedersachsen waren wir während der Situation der erhöhten Zuwanderung in den Jahren 2015/16 mit einer besonderen Herausforderung konfrontiert; seit dieser Zeit erweist sich die Anwesenheit syrischer Psychiater als unverzichtbar. Unser Ärztlicher Direktor, selbst syrischer Herkunft, stellte wertvolle direkte Kontakte her und wir konnten den Menschen, die flüchten mussten, helfen.
Aktuell haben wir eine Person beim Landhandel Frommel integriert und eine weitere bei einem Braunschweiger IT-Unternehmen. Das sind Erfolgsgeschichten aus der jüngsten Vergangenheit, die dank unserer Integrationsmoderatoren geschrieben werden konnten.
Die geflüchteten Menschen kommen direkt in unsere Beratungsstellen. Unsere Integrationsmoderatoren pflegen ein gutes Netzwerk zu den Unternehmen und sind permanent mit ihnen im Austausch. Sie identifizieren potenzielle Übereinstimmungen zwischen den Geflüchteten und den Unternehmen. Auf diese Weise übernehmen wir eine aktive Begleit- und Unterstützungsrolle für die Geflüchteten und die beteiligten Unternehmen.
Unsere Integrationsmoderatoren sind in der Regel sozialpädagogische Fachkräfte; einer unserer Kollegen hat selbst einen Migrationshintergrund. Sie sind in der Community im Bereich der zugewanderten oder geflüchteten Menschen sehr gut vernetzt, sie sind immer vor Ort und sorgen für das enge Netzwerk zu unseren Migrations-Beratungsstellen, die wir hier in der Region betreiben.
AGV: Wie unterstützen Sie Geflüchtete bei der Integration in Unternehmen und welche Maßnahmen ergreifen Sie, um jenseits herkömmlicher Bewerbungsverfahren Kontakte herzustellen?
RFW: Insbesondere bei Geflüchteten ist es häufig so, dass Kontakte nicht über die gängigen Bewerbungsverfahren entstehen. Für solche Situationen bieten wir z. B. Bewerbungstrainings an. Wir bereiten die Menschen auf die Bewerbungsgespräche vor, entweder in einer Gruppe oder einzeln.
Wir nehmen wahr, dass es viele Unsicherheiten bei den Unternehmen gibt. Fragen bezüglich des Aufenthaltsstatus, der Überwindung von sprachlichen Hindernissen und zur respektvollen Interaktion mit unterschiedlichen Kulturen stellen herausfordernde Aspekte dar. Nicht alle Unternehmen verfügen über das erforderliche Knowhow in diesen Bereichen.
Ein erfreuliches Beispiel hierzu sind die Mitarbeiterpatenschaften, die wir z. B. innerhalb unserer Pflegeabteilungen umsetzen. In dieser Struktur haben wir erfolgreich zugewanderte Fachkräfte aus verschiedenen Ländern wie Vietnam, Tunesien und Indien angeworben, wobei sich die Patenschaften als äußerst effektiv erwiesen haben. Dieses Modell könnte auch für andere Unternehmen, insbesondere im Kontext der Personalrekrutierung, Impulse bieten.
Organisatorische Herausforderungen
Nachdem der anfängliche Kontakt zur betreffenden Person im Herkunftsland in der Regel noch vergleichsweise geordnet erfolgen kann, tauchen danach so einige Herausforderungen auf. Handlungsbedarf zeigt sich bei der Interaktion mit Botschaften, um das erforderliche Arbeitsvisum zu erlangen; dann geht es mit den Ausländerbehörden und dem Aufenthaltstitel weiter. Diese Schritte erfordern eine umfassende Vorbereitung, insbesondere wenn berufliche Qualifikationen und deren Akkreditierung involviert sind. An dieser Stelle bieten wir unsere Dienstleistungen an, um Unternehmen zu unterstützen. Neben der administrativen Dimension sind auch praktische Belange zu adressieren, wie z. B. die Organisation von Wohnungen. Menschen, die aus Vietnam zu uns kamen, kannten oft kein Bankkonto. Die gezielte Förderung des Spracherwerbs, inklusive fachspezifischer Terminologie – idealerweise bereits im Herkunftsland – ist ein bedeutender Schritt. Wir haben zum Teil sehr junge Menschen, die hierherkommen und 9.000 Kilometer von ihrer Heimat entfernt sind. Hier sollte z. B. organisiert werden, dass sie zumindest einen WLAN-Anschluss in den Wohnungen haben.
An diesen Stellen kommt die überaus wichtige Funktion der Mitarbeiterpaten in den Betrieben ins Spiel, die diese Prozesse entsprechend organisieren und begleiten.
Kulturelle Hintergründe
Um eine gute Zusammenarbeit in multikulturellen Teams zu gewährleisten, ist eine gezielte Informationsvermittlung von Bedeutung. Die Integration solcher Teams kann äußerst bereichernd sein, und in unserer Organisation ist sie schon lange etabliert und erfolgreich aktiv. Diese Erfahrung birgt auch erhebliches Potenzial für Unternehmen, um davon zu profitieren.
Für Unternehmen existieren teils große Hemmschwellen unter den Fragestellungen: Wenn ein Geflüchteter neu im Unternehmen anfangen soll, was bedeutet das eigentlich, wenn sein Aufenthaltsstatus verfällt? Wie sollte der Arbeitsvertrag gestaltet werden? Wie setze ich ggf. die neue Gesetzgebung zur Arbeitsaufnahme um?
Wenn Unternehmen auf unsere Dienstleistungen zurückgreifen, ist es eine Win-Win-Situation für beide Seiten. So lassen sich Fehler, die man beim ersten Mal macht, vielleicht beim zweiten Mal vermeiden.
AGV: Initiativen zeigen: Der Einsatz lohnt sich, aber er erfordert Engagement, Kreativität – und den Mut zum Pragmatismus. Wie können Unternehmen Geflüchtete finden, die von ihren Kompetenzen her passen? Welche Unterstützung brauchen Geflüchtete auch nach der Aufnahme eines Praktikums, Jobs oder Ausbildungsplatzes?
RFW: Pragmatisch ist das richtige Stichwort – wir sollten Menschen mehr zusammenbringen. Ich kann mir z. B. gut vorstellen, dass Mitarbeitende eines Unternehmens unsere Mitarbeitenden der AWO bei einem Besuch in einer Flüchtlingsunterkunft begleiten.
Innerhalb unserer Geschäftsstelle haben wir eine Vielzahl von Mitarbeitenden, die vor zwei oder drei Jahrzehnten aus Regionen wie Osteuropa hierher zugewandert sind und mittlerweile feste Anstellungen innehaben. Diese Entwicklung konnte durch initiierte Projekte ermöglicht werden, bei denen wir uns stets an Neues herangewagt haben. Es bedarf gelegentlich lediglich des Mutes, erste Schritte zu wagen, um dann festzustellen, dass die Umsetzung möglich ist. Die Bereitschaft zur Offenheit erweist sich dabei oft als eine Quelle der Bereicherung für das gesamte Unternehmen.
AGV: Wie schätzen Sie die aktuelle Lage hinsichtlich des Fachkräftemangels in unserer Region ein?
RFW: Die gegenwärtige Lage offenbart, dass wir nicht mehr genug Arbeitskräftepotenzial haben, auch hier in der Region nicht. Wir erleben es tagtäglich in der Pflege oder in den Erziehungsberufen. Die Konsequenzen, sollten wir diesem Zustand nicht entgegenwirken können, sind von erheblicher Tragweite. Insbesondere ein unzureichendes Angebot an Betreuungsplätzen in Kindertagesstätten hat eine maßgebliche Wirkung, insbesondere auf die Erwerbstätigkeit von Frauen. Die Erkenntnisse aus den Studien von Professor Thomsen an der Universität Hannover legen eine korrelierende Beziehung zwischen der Verfügbarkeit von Betreuungsplätzen und der Erwerbstätigkeit von Frauen dar.
Dadurch, dass uns Arbeitskräfte in der Region fehlen, wird es unumgänglich, eine zuverlässige Kinderbetreuung aufrechtzuerhalten, um potenzielle negative Auswirkungen auf Unternehmen zu minimieren.
Integration fängt auch bei der Bildungsarbeit an: In keinem anderen europäischen Land, etwas überspitzt ausgedrückt, ist Hartz IV „vererbbar“, bedeutet: einmal arm, kommt man aus dieser Spirale kaum mehr heraus. Das sind Themen, die wir jetzt angehen müssen.
Stärkung der regionalen Zusammenarbeit zur Fachkräftegewinnung und Integration
Wir sollten schauen, wie wir zielgerichtet unsere Potenziale und Ressourcen über geflüchtete Menschen zusammenbringen, über zugewanderte Menschen, die bisher noch nicht den Weg in den Arbeitsmarkt gefunden haben. Diese Dynamik steht im Einklang mit dem Fokus auf Fachkräftemangel und der Notwendigkeit, qualifizierte Zuwanderung zu koordinieren.
In meiner Überzeugung liegt die regionale Stärke darin, dass wir als Region, als Mitgliedsunternehmen des Arbeitgeberverbandes, branchenübergreifend in intensiver Kooperation zusammenarbeiten können, um gemeinsam Fachkräfte anzuwerben. Durch die Implementierung einer regionalen Ausländerbehörde könnten beispielsweise viele Prozesse zielgerichteter ablaufen.
Ferner ist es unabdingbar, eine gemeinsame Strategie zu erarbeiten, die es ermöglicht, die neuen Zugewanderten nicht nur in der Region, sondern auch an ihrem Arbeitsplatz nachhaltig zu etablieren; viele sind zutiefst dankbar für die Möglichkeit, hier tätig zu werden.
Die AWO strebt danach, das Netzwerk der Zugewanderten mit unseren bestehenden Ressourcen zu verknüpfen. Wir freuen uns, wenn die Arbeitgeber der Region auf uns zukommen. Als Teil unseres öffentlichen Auftrags liegt es in unserer Verantwortung, Menschen in die Gemeinschaft zu integrieren; gleichzeitig tragen wir dazu bei, dass die Wirtschaftsregion funktioniert.
Herzlichen Dank für das Interview, Herr Fersahoglu-Weber.