Interview mit Ralf Sygusch

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29.03.2023

„Wir sorgen für Orientierung in Zeiten der Mobilitäts- und Energiewende“

Ob und wie die Mobilitäts- und Energiewende in unserer Region gelingt, davon hat er eine klare Vorstellung: Ralf Sygusch ist Verbandsdirektor des Regionalverbandes Braunschweig. Bei ihm laufen die Fäden für den Ausbau des ÖPNV genauso zusammen wie für die Flächennutzung für regenerative Energien, Landwirtschaft oder Rohstoffabbau. Warum es ihm wichtig ist, das Thema Mobilitätswende nicht mit dem Thema Antriebswende gleichzusetzen und seine Position zum klimaneutralen Fahren im Schienenpersonennahverkehr – das und vieles mehr verrät er im Gespräch mit dem AGV.

Ralf Sygusch, Verbandsdirektor des Regionalverbands Großraum Braunschweig/Geschäftsführer des Verkehrsverbunds Region Braunschweig GmbH
Alice Hossain, Medien- und Projektmanagerin beim AGV, im Gespräch mit Ralf Sygusch

AGV: Herr Sygusch, Sie haben eine Doppelfunktion inne: als Verbandsdirektor des Regionalverbandes und als Geschäftsführer des Verkehrsverbundes Region Braunschweig (VRB). Bitte erklären Sie uns doch, welche Aufgaben mit dieser Doppelfunktion einhergehen und welche Arbeitsschwerpunkte Sie in der jeweiligen Position setzen? 

Ralf Sygusch: Mein Hauptjob ist der des Verbandsdirektors beim Regionalverband Großraum Braunschweig, für welchen ich von der Verbandsversammlung für acht Jahre gewählt wurde. Im Wesentlichen sind wir mit steuernden und planenden Aufgaben von den uns tragenden Städten Braunschweig, Salzgitter, Wolfsburg, den Landkreisen Gifhorn, Goslar, Helmstedt, Peine, Wolfenbüttel sowie dem Land Niedersachsen betraut. Wir sind gleichzeitig Genehmigungsbehörde und Fördermittelgeber.

 

Qua Definition sind wir mit unseren 70 Mitarbeitenden eine Verwaltung; schaut man sich jedoch unsere Aufgaben- und Mitarbeiterstruktur an, sind wir eigentlich zu etwa zwei Dritteln ein Planungs- und Prozesssteuerungsbüro.

Im Bereich der Regionalentwicklung liegt unser Fokus darauf, unbebaute Flächen zu sichern und deren Nutzung über den Regionalplan zu steuern. In Zusammenarbeit mit unseren Kommunen finden wir Flächen, um bspw. Klimaschutz, Freiraum und Erholung, Hochwasserschutz, dem Ausbau erneuerbarer Energien oder auch regionalen Infrastrukturprojekten Raum zu geben. Darüber hinaus initiieren wir regionale Strategie- und Projektansätze, führen Partner zusammen, um gemeinsam Konzepte zu entwickeln. Wir arbeiten dabei sehr querschnitts- und systemorientiert. Auch dem Flächenbedarf der Wirtschaft, geben wir Raum. Wir berücksichtigen aber eben auch den Flächenbedarf für Leben, Natur und Erholung. Flächen sind ein wertvolles und teures Gut, mit dem wir nachhaltig und effizient wirtschaften müssen.

Der zweite große Block unserer Aufgaben umfasst die Weiterentwicklung der Mobilitätsangebote in der Region, mit dem Fokus auf der Steuerung des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV). Unsere Rolle ist, den öffentlichen Personennahverkehr zu planen, zu beauftragen, zu finanzieren und zu evaluieren. Um sich ein Bild zu machen, was sich hinter dem Begriff ÖPNV verbirgt, ein paar Zahlen: In der Region bringen 19 Verkehrsunternehmen mit rund 2.700 Beschäftigten, 172 Zügen und ca. 1.000 Bussen das tägliche Angebot auf die Schiene und Straße.

Aus dem zweiten Aufgabenblock leitet sich meine zweite Funktion ab. Bei der Verkehrsverbund Region Braunschweig GmbH (VRB) verantworten der Regionalverband als Hauptgesellschafter sowie die 19 Verkehrsunternehmen der Region gemeinsam den Vertrieb und das Marketing des regionalen Verbundtarifs und auch die Einnahmenaufteilung. Die Gesellschaft wird von zwei Geschäftsführern geführt. Einer der Geschäftsführer bin ich, der andere ist der Geschäftsführer der Braunschweiger Verkehrsbetriebe, Jörg Reincke.

Von der Heide bis zum Harz - Zahlen zur Region/Quelle: Regionalverband
„Um die Energie- und Mobilitätswende zu meistern, 
ist eine Offenheit für neue Themen und eine Lösungsorientierung auf allen Ebenen notwendig“ 
Ralf Sygusch

AGV: Wie wird das 49-Euro-Ticket als Jobticket ausgestaltet sein?

Ralf Sygusch: Das D-Ticket gilt ab 1. Mai und kann ab sofort bestellt werden. Arbeitgeber haben die Möglichkeit, es ihren Beschäftigten als vergünstigtes Jobticket anzubieten. Dies setzt voraus, dass sie einen Arbeitgeberzuschuss von mindestens 25 Prozent gewähren, dann gibt der VRB einen weiteren Abschlag von fünf Prozent dazu. Arbeitnehmer*innen könnten auf diese Weise das Ticket also mindestens 30 Prozent günstiger erhalten. Mit dem bundesweit standardisierten Jobticket-Modell kostet das Ticket dann maximal 34,30 Euro.

Dem Rahmen, in dem man als Unternehmen seine Mitarbeitenden bezuschusst, sind keine Grenzen gesetzt. Ein kleines Modellbeispiel: Wenn ein Unternehmen seinen Mitarbeitenden das Jobticket anbietet und 16 Euro im Monat dazugibt, hätte man faktisch ein deutschlandweit gültiges Ticket für 365 Euro im Jahr. Dieses müsste als Abo bezogen werden, ist aber monatlich kündbar. Voraussetzung dafür ist, dass man als Unternehmen einen Rahmenvertrag mit dem VRB abschließt. Die Mindestabnahmezahl beträgt aktuell 5 Abos pro Unternehmen. (bisher waren es 20 Abos pro Unternehmen).

Wir finden, es ist in der heutigen Zeit ein gutes Angebot des Arbeitgebers für seine Mitarbeitenden – ein jetzt deutschlandweit gültiges Nahverkehrsticket für einen Preis von um die 30 Euro im Monat zur Verfügung zu stellen. Wichtig ist uns mit Blick auf die Liquiditäts- und Einnahmesicherung für die Verkehrsunternehmen, dass die Tickets möglichst regional bezogen werden.

 

AGV: Stichwort Zukunft: Zur Arbeit mit der Flugdrohne oder zumindest mit dem vollautonomen Fahrzeug. Wie schauen Sie aus ÖPNV-Sicht auf diese Themen?

Ralf Sygusch: Als Verantwortliche für den Öffentlichen Personennahverkehr schauen wir in erster Linie darauf, ob technische Lösungen relativ zeitnah im Regelbetrieb und im Sinne von Daseinsvorsorge einen Mehrwert für die Fahrgäste bringen. Und ob und wie dies finanzierbar ist. Die Flugdrohne ist aus meiner Sicht kein Thema, mit dem wir uns mittelfristig beschäftigen werden.

Autonomes Fahren kann für den ÖPNV ein sehr interessantes Thema werden. Ich bin überzeugt davon, dass wir zuerst im ÖPNV echte Anwendungen sehen werden. Mich wundert es deshalb manchmal, dass in der Region autonomes Fahren fast ausschließlich mit der individuellen Mobilität und dem Auto verbunden wird. Neben festen Routen in den Städten ist für uns autonomes Fahren insbesondere in ländlichen Räumen mit Blick auf den Fachkräftemangel, aber auch unter Kostengesichtspunkten eine spannende Zukunftsperspektive. Ein Forschungsinteresse besteht bei uns primär hinsichtlich künftiger betrieblicher Lösungen und deren Finanzierbarkeit.

 

„Angebote mit einem dauerhaften Mehrwert für die Menschen in der Region  
sind für uns Kriterien eines Leuchtturmprojektes.“ 
Ralf Sygusch

AGV: Die Zahl autonomer Busverkehre in Deutschland ist in den letzten Jahren rasant gestiegen, in Shenzen fahren ausschließlich Elektrobusse – und zwar über 16.000. Warum gelingt es in der Heimat der Mobilität (VW, Alstom, Siemens Mobility), der Wissenschaft (DLR, NFF, LBA) mit so viel Mobilitätsgeschichte (erste staatliche Eisenbahn, Büssings erste Buslinie usw.) nicht ein Leuchtturmprojekt der Zukunftsmobilität zu setzen?

Ralf Sygusch: Eine spannende und gleichzeitig komplexe Frage. Zuerst sollte jeder aus seiner Perspektive den Begriff Leuchtturmprojekt und auch Zukunftsmobilität definieren. Die Diskussion um diese Begriffe nehme ich in der Region oft als eine der Technologieforschung oder auch Transformation der Automobilwirtschaft wahr. Zukunftsmobilität oder Zukunft der Mobilität verbinde ich mit Begriffen wie Vernetzung, Multimodalität, Klimaneutralität oder Mobilitätswende. Insbesondere die Städte in der Region haben wie der Regionalverband bereits Konzepte mit dieser Grundausrichtung. Genauso wie Mobilitätswende und Antriebswende nicht das Gleiche sind, sind für mich auch die Zukunft der Mobilität und die Zukunft der Mobilitätswirtschaft im Sinne von Technologie und Transformation unterschiedliche Dinge. Wir haben deshalb den Wunsch, das Thema Mobilität etwas breiter zu betrachten.

Es stimmt, dass es bereits einige Pilotprojekte für autonome Shuttles gibt. Wenn man sich das genauer ansieht, stellt man fest, dass meist große Verkehrsverbünde und -unternehmen, oft mit Unternehmen des DB-Konzerns oder internationalen Partnern, diese umsetzen. Auch wir sind hier offen für Kooperationen mit der Forschung und der Wirtschaft, haben dabei aber natürlich immer eine Umsetzung im Echtbetrieb als Ziel.

Umsetzung und Weiterentwicklung bestehender Angebote und möglichst ein dauerhafter Mehrwert für die Menschen in der Region sind für den Regionalverband Kriterien für ein Leuchtturmprojekt. Exemplarisch hierfür zwei Beispiele:

In unserem regionalen „Echtzeitprojekt“ haben wir gemeinsam mit allen Verkehrsunternehmen und 17 Kommunen alle Fahrzeuge mit echtzeitfähigen Rechnern ausgestattet, deren Daten an die Datendrehscheibe gehen. Dort sind sie für die parallel installierten Auskunftssysteme an Haltestellen, in den Fahrzeugen, in Apps sowie im Sinne von OpenData auch für Anwendungen Dritter nutzbar. Zusätzlich wird die in den Bussen verbaute Technik von den Kommunen für ihre eigenen ÖPNV-Projekte genutzt werden. Des Weiteren fließen die Daten in unsere digitalen Verkehrsmodelle für die Region sowie die Städte Braunschweig und Wolfsburg ein. Diese sind gerade im Aufbau und wir können damit künftige Mobilitätslösungen simulieren sowie Verkehrs- und Klimafolgenabschätzungen für neue Standortentwicklungen vornehmen.

Das zweite Projekt ist unser Pilotprojekt „flexo“. In diesem haben wir in acht Pilotgebieten ein neues Ridepooling-Angebot in den ÖPNV integriert. Ziel ist es, über ein neues Dispositionssystem das ÖPNV-Angebot insbesondere in ländlichen Räumen qualitativ zu verbessern, Anschlüsse an den übergeordneten ÖPNV zu gewährleisten, gleichzeitig Parallelverkehre auszuschließen und die Akzeptanz bei den Fahrgästen zu untersuchen. Wir haben hierfür 32 barrierefreie Kleinbusse angeschafft (die es leider noch nicht klimaneutral gibt), die wir an die beteiligten Verkehrsunternehmen vermieten. Unser Hauptproblem sind fehlende Finanzmittel von Bund, Land und Kommunen um solche Angebote aufzubauen, zu etablieren und dauerhaft als Teil einer Zukunft von Mobilität anzubieten.

In Bezug auf die Umstellung des ÖPNV auf klimaneutrale Antriebe geht die Tendenz klar in Richtung E-Mobilität. Ähnlich wie die Automobilwirtschaft gibt es auch im ÖPNV klare Vorgaben seitens der EU für die Antriebswende. Die kommunalen Busunternehmen in der Region haben sich intensiv damit beschäftigt und ihre Flotten schon teilweise umgestellt. Die Achillesferse ist auch hier wieder das Thema der Finanzierung sowohl für die Fahrzeuge als auch die Ladeinfrastruktur.

Im Schienenpersonennahverkehr (SPNV) haben wir mit unserem SPNV-Konzept 2030+ neben dem Ausbau der Bedientakte und der Infrastruktur auch den Umstieg auf klimaneutrale Antriebe für die nächsten Jahre vorgezeichnet.

Der Umstieg baut auf dem Bedienkonzept und dem bereits zu 40% vorhandenen Oberleitungsnetz auf. Durch den guten Elektrifizierungsgrad wurde eine langfristige Elektrifizierung aller Strecken als die wirtschaftlichste und nachhaltigste Lösung identifiziert. Da diese Vollelektrifizierung allerdings Jahrzehnte dauern wird benötigen wir als Übergangstechnologie batterieelektrische Züge (BEMU) und/oder Brennstoffzellenzüge (Fuel Cell Electric Multiple Unit – FCEMU). Batterieelektrische Züge können an den bestehenden Oberleitungen während der Fahrt aufgeladen werden und dann mit Batterie weiterfahren. Parallel schauen wir, ob wir in oder um Salzgitter herum auch Strecken mit sog. Wasserstoffzügen betreiben können. Dies setzt allerdings eine Finanzierung der Mehrkosten durch Dritte voraus.

AGV: Seit einigen Jahren führen wir in der Region Diskussionen um neue Gewerbegebiete. Wo stehen wir heute? Wären wir bereit für eine Ansiedlung wie von Tesla und Intel? Was ist aus Ihrer Sicht die Hauptursache, dass wir bei der Ausweisung neuer Flächen nicht recht vorankommen?

Ralf Sygusch: Der Regionalverband hat 2020 mit dem Konzept regionalbedeutsamer Gewerbestandorte (KOREG) gemeinsam mit den Kommunen eine umfassende Bewertung der Wirtschaftsregion erarbeitet und gleichzeitig Potentialflächen identifiziert, welche aber nicht automatisch ein Gewerbegebiet werden müssen. Es gibt Standorte, die grundsätzlich denkbar wären. Diese müssten aber erst entwickelt werden. Einige Gebiete, wie bspw. in Rennau-Barmke, sind entwickelt worden. Angesichts der notwendigen Größe stellt sich die Frage, ob dies Aufgabe einer Kommune sein kann. Zudem können wir zukünftig nicht mehr so viele neuen Flächen erschließen, wie in der Vergangenheit. Ich denke wir bräuchten perspektivisch ein regionales Wirtschaftskonzept und im Idealfall wenige gemeinsam entwickelte regional bedeutsame Gebiete. Nicht unerwähnt bleiben sollte, dass neben klassischen Gewerbegebieten ein recht breites Portfolio an Flächenwünschen unterschiedlicher Wirtschaftsbereiche besteht. 

Grafik Quelle: Regionalverband
Ralf Sygusch im Interview

Wirtschaftsflächenentwicklung umfasst auch die Flächenbedarfe, bspw. der Rohstoffwirtschaft, wenn es etwa um Kiesabbaugebiete geht. Auch die Energiewirtschaft möchte Fläche, aktuell stark für Photovoltaik und die damit verbundene Infrastruktur. Dafür gibt es in den Kommunen Anfragen im Umfang von über 3.000 ha. Auch das ist gewerbliche Nutzung. Und natürlich benötigen die Landwirtschaft und die Tourismuswirtschaft Flächen.

Zusammengefasst heißt das, dass die Nachfrage nach Flächen sehr breit gefächert ist. Die Rolle des Regionalverbandes ist es, zu beraten und bei konkreten Planungen alle Interessen und die Auswirkungen auf Mensch und Umwelt in eine Bewertung einfließen zu lassen. Ich möchte deshalb jedem Unternehmen das über größere Entwicklungen außerhalb von besiedelten Bereichen nachdenkt, empfehlen, frühzeitig auf uns zukommen. Im Helmstedter Revier/Buschhaus beraten wir mit Landkreis, Stadt Helmstedt und weiteren Gemeinden, wie wir die Themen Erneuerbare Energien, Tourismus und Landwirtschaft sinnvoll miteinander kombinieren können.

„Die Nachfrage nach Flächen ist sehr breit gefächert. 
Wir lassen alle Interessen und die Auswirkungen auf Mensch und Umwelt in eine Bewertung einfließen“ 
Ralf Sygusch

AGV: Wenn Sie sich einen großen Investor wünschen dürften, der sich in der Region ansiedelt, wer wäre es?

Ralf Sygusch: Naheliegend wäre ein Unternehmen aus den Branchen Mobilität, Kreislaufwirtschaft oder Erneuerbare Energien, welches einen Bezug zu unseren regionalen Forschungseinrichtungen oder zum Thema Transformation der Automobilwirtschaft hat.

AGV: Die Nutzungsszenarien ändern sich, die Grenzen zwischen Wohn- und Arbeitsort werden fließender, genauso wie die Grenzen zwischen Fertigungs- und Wissensarbeit. Reichen dafür noch die raumplanerischen Schablonen von Wohnorten, Gewerbegebieten und Einzelhandelsinnenstädten

Ralf Sygusch: Die engere Verzahnung von Wohnen, Arbeit und Freizeit und sonstigen Dienstleistungen ist etwas, an dem ich vor meinem Wechsel zum Regionalverband selbst intensiv gearbeitet habe. Deshalb sind für mich Planungen und Projekte wie bspw. die Bahnstadt in Braunschweig oder der Masterplan Nordhoffachse in Wolfsburg Schlüsselprojekte für die Zukunftsfähigkeit der Städte und auch der Region. Gleichzeitig können sie, bspw. als Standorte für wissensbasierte Dienstleistungen auch Druck von Flächen nehmen, die wir für Erholung, Grundwassersicherung, Hochwasserschutz, Landwirtschaft oder auch die Erzeugung erneuerbarer Energien benötigen.

Mit unseren raumplanerischen Instrumenten unterstützen wir solche Entwicklungen indirekt, indem wir siedlungsstrukturelle Entwicklungen möglichst in solche Innenbereiche lenken oder auch Projekte auf der „Grünen Wiese“ bewerten und ggf. ablehnen. Natürlich ist es richtig, dass sich auch die raumplanerischen Instrumente weiter entwickeln müssen.

AGV: Durch ein Gerichtsurteil wurde die Windkraftplanung im Großraum Braunschweig unwirksam – bedeutet das, dass „alle Zeichen wieder auf Neustart stehen“? Wie geht es weiter, wo setzen Sie mit der weiteren Planung an?

Ralf Sygusch: Bei der Windkraftplanung verfolgen wir parallel mehrere Wege. Das Urteil des Oberverwaltungsgerichtes Lüneburg (OVG) hebt bei Inkrafttreten die gesamte Windkraftplanung aufgrund eines Formfehlers auf. Wir haben gegen die Nichtzulassung der Revision Einspruch eingelegt, hier warten wir auf die Entscheidung. Bis das Urteil rechtskräftig wird, gilt unsere Planung. Das heißt, in allen 49 ausgewiesenen Gebieten für Windenergienutzung kann weiter geplant und gebaut werden. Auf bereits bebaute oder genehmigte Windkraftanlagen hat das Urteil ohnehin keinen Einfluss. Parallel dazu prüfen wir, ob und in welchem Zeitraum die Gründe für das Urteil zu korrigieren wären.

Die aktuell neu formulierten Ziele für die Region umfassen in etwa eine Verdreifachung der Flächen für den Windenergieausbau. Auch für diese Planung erwartet die Politik eine steuernde Planung mit einer Konzentration auf die geeignetsten Flächen. Ob die derzeitigen Planungsvorgaben auch in der Zukunft noch tragen werden, kann ich angesichts der Dynamik bei der Änderung der Gesetze auf Bundes- und Landesebene nicht einschätzen. Was ich sagen kann ist, dass wir mit Blick auf die neuen Flächenziele bereits mit einer Planung begonnen haben. Darüber hinaus setzen wir uns beim Land dafür ein, dass die Planungen erleichtert und damit beschleunigt werden. Der Weg bis zur rechtskräftigen Planung ist deshalb so lang, weil die Beteiligungsverfahren und die damit verbundene Bearbeitung der wahnsinnig vielen Einwendungen so viel Zeit benötigen. Bei der letzten Windplanung waren es über 20.000 Einwendungen.

AGV: Welche Technologien sind aus Ihrer Sicht neben der Windenergie entscheidend und was kann man raumplanerisch dafür tun? Zum Beispiel im Bereich Wasserstoff oder auch anderen Speichertechnologien?

Ralf Sygusch: „Erneuerbare Energien“ ist für uns als Regionalverband eines der großen Themen.

Wasserstoff spielt für uns vor allem bezüglich der Planung der Windenergieflächen, der Sicherung der Kraftwerksstandorte und der Festlegung möglicher Leitungskorridore zwischen Herstellungs- und Verbrauchsort eine Rolle, da wir über entsprechende Raumordnungsverfahren die geeignetsten Korridore festlegen Wir sind auch in das aktuelle HyExpert-Projekt in SüdOstNiedersachsen involviert.

Aktuell beschäftigen wir uns mit den Auswirkungen der Nutzung von Freiflächen für Photovoltaik (PV). Die Zielvorgabe des Landes lautet, etwa 3/4 der Erzeugung von Solarenergie auf bereits bebauten Flächen zu verteilen und nur etwa 1/4 in der freien Fläche. Die Entwicklung momentan ist aber die genau umgekehrte: Viele Entwickler wollen auf freie Flächen, weil es dort leichter und preisgünstiger ist.

 

 

Wir möchten den Fokus darauflegen, dass der Strom vornehmlich verbrauchernah auf Dächern, an Wänden oder überdachten Flächen wie Parkplätzen etc. erzeugt wird. Auf dem Gebiet können die Unternehmen der Region einen entscheidenden Beitrag leisten. Für den Erhalt unserer wertvollen Freiflächen und für Ihre eigene Energieautarkie.

Momentan schauen wir mit einer gewissen Sorge darauf, dass in der Landschaft so viele Projekte für die Erzeugung von Strom über PV angebahnt werden, dass sie schon jetzt weit über die Ziele hinausgehen, die das Land uns für die nächsten 15 Jahre vorgibt. Wir haben momentan einen Run auf Flächen, die dann für die Landwirtschaft und für Erholungsräume und Ausgleichsflächen fehlen.

Photovoltaik - Einordnung Ziele und Potentiale/Grafik Quelle: Verkehrsverbund
Grafik Quelle: Verkehrsverband

AGV: Innovative und klimafreundliche Ideen müssen her, um den öffentlichen Raum/Nahverkehr neu zu denken und ihn auch in Zukunft lebenswert zu machen. Wie kann die Energie- und Mobilitätswende in der Region Großraum Braunschweig gemeistert werden?

Ralf Sygusch: Ich denke, um die Energie- und Mobilitätswende zu meistern, ist eine Offenheit für neue Themen und eine Lösungsorientierung auf allen Ebenen notwendig. Es muss ein Bewusstseinswandel in Politik und Wirtschaft, aber auch bei den Menschen stattfinden. Technologische Lösungen allein werden nicht reichen, sondern wir müssen auch unser Mobilitätsverhalten und unseren Ressourcenverbrauch überdenken.

Bei der Mobilitätswende ist es mir wichtig, dass sie nicht mit Antriebswende gleichgesetzt wird. Denn Antriebswende ist lediglich die Änderung des Antriebs, der Umstieg von Diesel oder Benzin auf elektrischen Antrieb oder Wasserstoff.

Unter Verkehrs- und Mobilitätswende verstehen wir, dass man auch ein anderes Mobilitätsverhalten entwickelt. Dass verschiedene Verkehrsmittel zur Verfügung stehen und je nach Bedarf genutzt werden, vielleicht sogar für Abschnitte eines Weges unterschiedliche Verkehrsmittel genutzt werden, weil es einfach ist von einem auf das andere Verkehrsmittel umzusteigen. Also zu Fuß, mit dem Fahrrad oder E-Roller zum Bahnhof, dort das Fahrzeug sicher abstellen, weiter mit dem Zug – am Stau vorbei – und am Ankunftsort weiter zum Ziel zu Fuß, mit Fahrrad oder Roller, mit Bus oder Straßenbahn oder mit einem Sharing-Auto. Dieser multimodale Ansatz bestimmt unsere Verkehrsentwicklungsplanung. Und wir arbeiten daran, dass er verinnerlicht und umgesetzt wird.

Um hier auch Effekte aufzeigen zu können, hat der Regionalverband im Rahmen der Erarbeitung des regionalen Masterplans 100% Klimaschutz, die Aufgabe einer regionsweiten CO2-Bilanzierung übernommen. Die letzte Bilanz für die Jahre 2015 bis 2020 hat gezeigt, dass im Verkehrsbereich der Ausstoß von Treibhausgasen im Gegensatz zu allen anderen Sektoren zugenommen hat. Die Ergebnisse stellen wir auch den Kommunen zur Verfügung, damit sie ihre eigenen Klimaschutzmaßnahmen bewerten und evaluieren können.

Sie sehen, wir sind schon ein gutes Stück vorangekommen, aber es bleibt noch viel zu tun.

Herzlichen Dank für das Interview, Herr Sygusch!