Hinweispflicht des Arbeitgebers auf Urlaubsansprüche bei langandauernder Erkrankung

Arbeitsrecht

14.10.2022

Der EuGH hat in zwei miteinander verbundenen Verfahren entschieden, dass den Arbeitgeber die Hinweispflicht auch für solche Urlaubsansprüche trifft, die der Arbeitnehmer in einem Bezugszeitraum erworben hat, in dessen Verlauf er tatsächlich gearbeitet hat, bevor er voll erwerbsgemindert oder aufgrund einer seitdem fortbestehenden Krankheit arbeitsunfähig geworden ist (EuGH, 22.09.2022 – C-518/20 – und C-727/20 -).

I. Sachverhalte

Der Kläger in der Sache C-518/20 ist bei der beklagten Fraport als Frachtfahrer beschäftigt.
Er bezieht seit dem Dezember 2014 eine Rente wegen voller, aber nicht dauerhafter Erwerbsminderung, die zuletzt bis zum 31. August 2022 verlängert wurde. Er klagte auf Feststellung, dass ihm 34 Tage bezahlter Jahresurlaub aus dem Jahr 2014 zustehen, die er aufgrund seines Gesundheitszustands nicht habe in Anspruch nehmen können. Zudem sei die Beklagte ihrer Hinweisobliegenheit nicht nachgekommen.

Die Beklagte ist der Ansicht, der Urlaubsanspruch für 2014 sei aufgrund der vollen Erwerbsminderung nach Ablauf des Übertragungszeitraums von 15 Monaten Ende März 2016 verfallen.

In einem verbundenen Fall (C-727/20) ist die Klägerin, Angestellte beim St. Vincenz-Krankenhaus, seit 2017 arbeitsunfähig erkrankt. Sie klagte auf 14 Tage nicht genommenen Urlaub aus dem Jahr 2017. Der Beklagte hatte sie weder aufgefordert, ihren Urlaub zu nehmen, noch darauf hingewiesen, dass nicht beantragter Urlaub mit Ablauf des Kalenderjahres oder des Übertragungszeitraums verfallen kann.

Die Vorinstanzen wiesen die Klagen jeweils ab, das Bundesarbeitsgericht setzte die Verfahren aus und legte dem EuGH Fragen zur Vorabentscheidung vor, die dieser zusammen geprüft hat.

Der EuGH hatte die Frage zu beantworten, ob europäisches Recht einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der der Anspruch eines Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub, den er in einem Bezugszeitraum erworben hat, in dessen Verlauf eine volle Erwerbsminderung oder eine Erwerbsunfähigkeit aufgrund einer seitdem fortbestehenden Krankheit eingetreten ist, entweder nach Ablauf eines gemäß nationalem Recht zulässigen Übertragungszeitraums oder später auch dann erlöschen kann, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nicht rechtzeitig in die Lage versetzt hat, diesen Anspruch auszuüben.

II. Entscheidungsgründe

Der EuGH bestätigt zunächst, dass unter den besonderen Umständen, dass ein Arbeitnehmer während mehrerer aufeinander folgender Bezugszeiträume arbeitsunfähig ist, mit Blick auf den Schutz des Arbeitgebers einzelstaatliche Rechtsvorschriften einen Übertragungszeitraum von 15 Monaten vorsehen können, nach dessen Ablauf der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub erlischt (EuGH-Urteil vom 22. November 2011, KHS, C-214/10).

Allerdings sei vor dem automatischen Verlust des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub zu
prüfen, ob der Arbeitnehmer durch entsprechenden Hinweis des Arbeitgebers tatsächlich in
die Lage versetzt wurde, diesen Anspruch wahrzunehmen.

Der EuGH weist ausdrücklich darauf hin, dass sich die betroffenen Arbeitnehmer in den Ausgangsverfahren darauf beschränken, die Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub geltend zu machen, die sie für den Bezugszeitraum erworben haben, in dem sie zum Teil erwerbstätig und zum Teil vollerwerbsgemindert oder krankheitsbedingt arbeitsunfähig waren.

Insofern bestünde nicht die Gefahr der negativen Folgen einer unbeschränkten Ansammlung von Ansprüchen auf bezahlten Jahresurlaub. De EuGH ergänzt, dass die zeitliche Begrenzung, die der Gerichtshof für zulässig erklärt habe, den Arbeitnehmer gewiss daran hindere, den Erhalt sämtlicher Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub einzufordern, die er während seiner längeren Abwesenheit vom Arbeitsplatz in mehreren aufeinanderfolgenden Bezugszeiträumen erworben hat.

Eine solche Beschränkung könne aber nicht auf den Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub angewandt werden, der im Lauf eines Bezugszeitraums erworben wurde, in dem der Arbeitnehmer tatsächlich gearbeitet habe, bevor er voll erwerbsgemindert oder arbeitsunfähig wurde, ohne dass geprüft wurde, ob der Arbeitgeber den Arbeitnehmer rechtzeitig in die Lage versetzt hat, diesen Anspruch geltend zu machen.

III. Bewertung | Folgen der Entscheidung

Durch einen frühzeitigen Hinweis zu Beginn eines Kalenderjahres auf die Notwendigkeit, den
Urlaub zu nehmen, lässt sich der Eintritt der vom EuGH angenommenen Folgen für eine
langfristige Urlaubsübertragung verhindern. Der EuGH erwähnt darüberhinausgehend zwar, dass eine zeitliche Begrenzung zur Ansammlung von Urlaubsansprüchen den Arbeitnehmer gewiss daran hindere, sämtliche Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub einzufordern, die er während einer längeren Abwesenheit in mehreren aufeinanderfolgenden Bezugszeiträumen erworben hat. Aus dem Zusammenhang geht allerdings nicht eindeutig hervor, dass für Fälle langer Arbeits- oder Erwerbsunfähigkeit generell keine Hinweisobliegenheit des Arbeitgebers für die Bezugszeiträume besteht, in denen der Arbeitnehmer keine Arbeitsleistung erbracht hat.

Ob danach ein Hinweis an einen im gesamten Jahresverlauf erkrankten oder erwerbsunfähigen Arbeitnehmer erfolgen muss, bleibt vielmehr offen.

Es kann sich daher anbieten, den Arbeitnehmer während einer langen Abwesenheit zu Beginn jedes Bezugszeitraums auf seinen Urlaub hinzuweisen.

Von einem Gesamthinweis auf alle über die Jahre gesammelten Urlaubsansprüche
im Zeitpunkt der Rückkehr des Arbeitnehmers raten wir ab; es ist nicht auszuschließen,
dass dies als „Ankerkenntnis“ des Arbeitgebers gewertet werden könnte.

Quelle: Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände