Professorin Dr. Angela Ittel ist seit dem 1. Juli 2021 Präsidentin der Technischen Universität Braunschweig. Als Präsidentin vertritt Professorin Ittel die Universität, leitet das Präsidium und gibt diesem die Richtlinien vor. Im großen Interview geht es um die Ausrichtung der TU, die Deutsche Bildungslandschaft und den Austausch mit der lokalen Wirtschaft.
Frau Professorin Ittel, aus Berlin nach Braunschweig: Was reizt Sie besonders am Wechsel an die Spitze der TU und was haben Sie sich vorgenommen?
Mich reizt besonders, dass die TU Braunschweig eine so enorme Dynamik und den Wunsch nach Weiterentwicklung ausstrahlt. Gleichzeitig ist ein außergewöhnliches Verständnis von Zusammenhalt und Identifikation mit der Universität und der Region zu spüren. Diese Energie möchte ich gern unterstützen und die Zukunft der TU Braunschweig mit allen Mitgliedern der Universität gemeinsam gestalten.
Sie ist gelten als ausgewiesene Expertin für Verbundforschung, wissenschaftlichen Nachwuchs, Internationalisierung, Diversität und Gleichstellung. In welchem dieser Themenfelder kribbelt es Ihnen am meisten, Ihre Expertise in die TU Braunschweig einzubringen?
Das Glück ist, dass all diese Themen zusammenhängen und ich mich nicht entscheiden muss oder sollte, worauf ein besonderer Fokus gelegt wird. Ich möchte erreichen, dass Internationalisierung, Diversität und Gleichstellung als konsequente Querschnittsthemen in Forschung, Lehre, Transfer und Verwaltung verstanden und umgesetzt werden. Nur so können wir das Ziel erreichen, uns einer ganzheitlichen Exzellenz zu nähern. Kribbeln ist der richtige Ausdruck. Ich freue mich sehr auf diese Tätigkeiten und spüre große Bereitschaft, auf diesen Weg gemeinsam aufzubrechen.
Was läuft an der TU Braunschweig aus Ihrer Sicht schon besonders gut?
Der schon erwähnte Zusammenhalt und der dezidierte Wille, Transparenz und Begründetheit als Basis für alle Entscheidungen zu sichern ist eine hervorragende Grundlage in der Zusammenarbeit mit den unterschiedlichen Gruppen und Gremien.
Die TU Braunschweig hat früh verstanden, Strukturen aufzubauen, um interdisziplinäre Forschung zu ermöglichen. Die Forschungsschwerpunkte Mobilität, Metrologie, Infektionen und Wirkstoffe und Stadt der Zukunft, geben Wissenschaftler*innen aller Fakultäten die Möglichkeit, zusammenzuarbeiten und sich auf attraktive Forschungsförderlinien gemeinsam zu bewerben. Das ist hervorragend. Und nicht zuletzt die Cluster, die in der hoch kompetetiven Exzellenzstrategie des Bundes und der Länder gefördert werden. Sie zeigen, welche hervorragenden Wissenschaftler*innen sich hier vereinen und international kompetitive Forschung durchführen.
Auch gefällt mir die Offenheit der Verwaltungsmitarbeitenden und der Studierenden, ins Gespräch zu kommen und konstruktive Lösungen zu finden, auch wenn es um herausfordernde Themen geht. Das ist nicht selbstverständlich und bietet großes Potential für eine erfolgreiche partizipative Hochschulgestaltung, die ich unbedingt weiter pflegen und ausbauen möchte.
In Niedersachsen gab es Streit über die Hochschulfinanzierung, weil das Land beim ohnehin langsamen Aufwuchs der Grundfinanzierung kürzt. Wie ist der aktuelle Stand bei den Verhandlungen, wie sehen Sie die finanzielle Ausstattung für die Hochschulen in Niedersachsen?
Die Hochschulen in Niedersachen haben sehr deutlich kommuniziert, dass die Pläne der Landesregierung nicht mit dem Wunsch einhergehen, die Hochschulen zu stärken und langfristig auf kompatibles (inter)nationales Niveau zu entwickeln. In der gemeinsamen und koordinierten Kommunikation mit dem Land konnte viel erreicht werden, und daran müssen wir festhalten. Die strategischen Überlegungen zur Stärkung der Hochschulen müssen sich in der Finanzierung deutlich widerspiegeln. Das ist noch nicht erreicht.
Immer wieder gibt es Lippenbekenntnisse der Politik, dass sich das Bildungswesen in Deutschland ändern und revolutionieren muss. Tatsächliche Veränderungen und große Investitionen bleiben aus. Wie bewerten Sie den aktuellen Zustand in Deutschland?
In den letzten Jahrzehnten hat sich schon einiges bewegt, beispielweise die Überarbeitung der Exzellenzinitiative, die ermöglicht, dass Universitäten dauerhaft strukturell unterstützt werden. Oder auch die Stärkung der Transferaktivitäten und die Öffnung der Universitäten für gesellschaftlich relevante Fragestellungen. Oder die Initiative der Tenure Track Professuren, die Universitäten die Möglichkeit bietet, jungen talentierten Wissenschaftler*innen früh eine verlässliche Entwicklungsperspektive zu geben. Derzeit ist auch insgesamt viel Dynamik in der Entwicklung der Stellenstrukturen, um besonders jungen Wissenschaftler*innen bessere Arbeitsbedingungen zu bieten. Große Potentiale sehe ich in der Rekrutierung von internationalen Wissenschaftlicher*innen, der Internationalisierung auch in Lehre und Verwaltung und in der Diversität an Universitäten. Da muss noch viel passieren, und ich bin sehr motiviert, hier mit meinen Kolleg*innen entsprechende Förderlinieren anzuregen, einzufordern und zu gestalten. Bildung muss noch mehr als der essentielle Baustein von Demokratie und gesellschaftlichem Wohlstand begriffen werden. Deutschland gibt immer noch vergleichsweise wenig für die Bildung aus; gerechnet auf das Bruttoinlandsprodukt des Landes liegen die Ausgaben deutlich unter den Ausgaben z.B. in Frankreich (1,5 %) und Norwegen (2,0 %).
Was ist aus Ihrer Sicht das größte Problem? Gerät der Föderalismus an seine Grenzen, wenn es an eine konkrete Ausgestaltung der Bildungslandschaft geht, oder woran liegt es, dass uns andere Länder überlegen sind?
Es liegt ja an strategischen Überlegungen der Landesregierungen, wieviel sie in die Hochschulen investieren. Ich bin nicht sicher, ob das eine Grenze des Föderalismus ist, oder es den Universitäten bessergehen würde, wenn der Bund festlegt, wieviel in tertiäre Bildung investiert wird. Aber eine konsolidierte Strategie des Bundes würde sicher helfen, Deutschland als Wissenschaftsstandort zu stärken.
Digitalisierung ist eines der zentralen Zukunftsthemen, auch dort kommen wir an vielen Stellen nur schleppend nach vorne. Wie sehen Sie die TU Braunschweig in diesem Bereich aufgestellt?
Das ist ein sehr wichtiges Thema – eins der sogenannten Megathemen. Viele analoge Prozesse müssen weiterhin in digitale Prozesse umgewandelt werden. Hier sind wir dran, aber haben noch einen Weg vor uns. Meine Priorität ist derzeit, sicherzustellen, dass wir so sicher wie möglich aufgestellt sind. Ich habe in Berlin direkt miterlebt, welche nachhaltigen Auswirkungen ein Hackerangriff haben kann. Das wollen wir unbedingt vermeiden.
Digitalisierung ist aber auch ein Querschnittsthema und betrifft alle Bereiche universitären Lebens. Durch die Pandemie haben wir, wie viele Hochschulen, einen großen Sprung nach vorne gemacht. Sie hat aber auch die Defizite sichtbar gemacht. Wir werden einiges investieren müssen, um kompatibel zu werden und bleiben.
Auch andere Rahmenbedingungen spielen eine wichtige Rolle – Studieren zu Corona-Zeiten. Meist war von Schule die Rede – nach dem Motto, die Älteren kommen schon klar. In der Realität sah das sicher anders aus. Wie haben Sie das wahrgenommen und wie ist der Stand an der TU, was hat man aus der Pandemie gelernt und wie läuft der Austausch jetzt?
Mehr und mehr Studien zeigen, dass manche Studierende massiv unter der Situation gelitten haben bzw. weiterhin leiden. Depression, Angststörungen und andere ernstzunehmenden Symptomatiken treten in der Altersgruppe der jungen Erwachsenden (nicht nur bei Studierenden) vermehrt auf. Überraschend ist das nicht, denn wir mussten alle ja mit einer sehr ungewöhnlichen Situation umzugehen lernen. Von den Studierendenvertreter*innen wurden wir über den Sommer explizit angesprochen, doch bitte die Universität wieder zu öffnen und eine Verschlechterung der Situation entgegenzuwirken. Wir haben die Beratungsangebote nochmals erhöht und eine Kampagne zur Re-Integration an die Universität gestartet. Wir hoffen sehr, dass wir so den Studierenden entgegenkommen und sie angemessen unterstützen. Es sollte allerdings betont werden, dass nicht alle Studierenden unter der ausschließlich digitalen Lehre gelitten haben. Manche begrüßen explizit die Flexibilität und die gewonnen „Life-Work Balance“ durch die Möglichkeiten, das Lernen selbst zu organisieren. Es gibt also auch eine Gruppe, die hybride Formate in der Lehre bevorzugt. Auch hierfür versuchen wir, soweit wie möglich die notwendigen Voraussetzungen zu schaffen. Wir müssen abwarten, was sich technisch umsetzten lässt und inwiefern auch die Dozierenden mit den unterschiedlichen Lehrformaten und der Kontrolle der 3G Regelung zurechtkommen. Es wird ein sehr lehrreiches Semester werden.
Erlauben Sie uns einen Einblick in Ihre Herausforderungen im Recruiting. Wenn Sie Top-Wissenschaftler für die TU Braunschweig im internationalen Wettbewerb begeistern wollen, was fällt besonders schwer? Das Gehalt mitzugehen? Standortfaktoren? Sprachbarrieren?
Die Rekrutierung von internationalen Wissenschaftler*innen ist ein entscheidendes Instrument der Internationalisierung und Diversität. Ich möchte hier einige Energie und auch Ressourcen investieren, um das möglich zu machen. Die größte Schwierigkeit ist es, attraktive Gehälter ausländischer Universitäten zu matchen oder zu überbieten. An den Sprachbarrieren arbeiten wir gerade, so dass aus dem Ausland Berufene nicht oder erst nach ein paar Jahren auf Deutsch lehren müssen. Außerdem legen wir ein umfangreiches Programm auf, damit die Mitarbeiter*innen in der Verwaltung besser unterstützt werden, den internationalen Kolleg*innen zu behilflich zu sein.
Braunschweig ist ein wahnsinnig spannender Forschungsstandort mit vielen außeruniversitären Forschungseinrichtungen und der Industrie ganz nah dran. Wenn eine Person diese Chancen nicht wahrnehmen möchte, können wir das meist nicht ändern. Wir sind aber immer darauf aus, die bestmöglichen Bedingungen zu bieten.
Häufig heißt es, dass die MINT-Fähigkeiten von SchülerInnen nachlassen. Wie gut sind Studierende nach dem Abitur auf die Anforderungen der TU Braunschweig aus Ihrer Sicht vorbereitet? Sollten wir vielleicht den Fokus auf starke und nicht mehr nur viele Abiturienten legen?
Die Zeiten, dass ein Studium nur den besten Schüler*innen vorbehalten ist, sind ja nun schon lange vorbei. Die Universität bietet Brückenkurse an, um Schüler*innen besser auf die Inhalte vorzubereiten. Sie werden gut angenommen. Es gib Tutorien und andere Möglichkeiten, Inhalte nachzuholen oder aufzuarbeiten, damit der Studienerfolg kein unerreichbares Ziel bleibt. Je diverser unsere Studierendenschaft ist, desto besser.
Die Wirtschaft unserer Region wandelt sich rasant und damit auch der Fachkräftebedarf. Wie wollen Sie an der TU Braunschweig damit umgehen? Werden beispielsweise Disziplinen im Themenfeld der Digitalisierung in den kommenden Jahren vergrößert?
Wir müssen agil in der Ausrichtung unserer Studiengänge bleiben und uns nicht scheuen, Formate und Themen zu verändern, damit wir unseren Zielgruppen in der Aus- und Weiterbildung gerecht werden können. Auch die Forschungsthemen der Kolleg*innen ändern sich rasanter als noch am Anfang dieses Jahrhunderts. Hier am Zahn der Zeit zu bleiben ist eine Stärke, die ich gern unterstütze. Das Themenfeld Digitalisierung müssen wir auf allen Ebenen enorm verstärken. Nicht nur in der Lehre. Wir haben gerade im Präsidium beraten, wie wir uns hier verstärkt aufstellen können. Ich bin zuversichtlich, dass wir gut vorankommen.
Gute Fachkräfte in unserer Region auszubilden ist das eine. Sie in der Region zu halten, das andere. Was wünschen Sie sich von der Region, um hier noch besser zu werden?
Von der Universität wünsche ich mir, dass wir lernen, global zu denken. Das schließt ein, dass wir klar auch für die Region ausbilden. Es bedeutet aber auch, dass wir nicht nur regional ausbilden, sondern unseren Wirkungskreis in der gesamten Welt sehen.
Es gab in den letzten Jahren erfreuliche Gründungsgeschichten von Studierenden der TU Braunschweig. Dennoch: Vergleicht man die Gründungsaktivität aus der Uni heraus mit anderen Hotspots, fällt auf, dass wir längst nicht in der ersten Liga des Zusammenspiels von Uni und Startup-Ökosystem spielen. Ist das für Sie ein Thema? Was kann man tun, um noch besser zu werden?
Die Fähigkeit zu gründen oder besser gesagt, den Spirit zu entwickeln, der mit beruflicher Selbstständigkeit und Innovation einhergeht, ist für mich ein riesiges Thema. Besonders auch in der Förderung junger Frauen, die in diesem Bereich immer noch weit hinter den Männern in Deutschland zurückliegen. Man kann Ausgründungen noch besser begleiten als Universität – z.B. durch langfristige Mentor*innenprogramme. Man muss aber auch Erfolge und Misserfolge besser nachhalten, damit man transparent darstellen kann, was in diesen Bereichen geschieht, und welchen Beitrag wir auch für die Region und (inter)national im Bereich der Ausgründungen leisten. Das machen wir noch nicht genug, und das möchte ich unbedingt unterstützen.
Schauen wir auf sie etablierten Unternehmen unserer Region – vor allem den vielfältigen Mittelstand neben Volkswagen. Wie schätzen Sie den Austausch derzeit ein? Und: Gibt es schon Handlungsfelder, die Sie ausfindig gemacht haben, um Unternehmen und TU Braunschweig noch enger zu verknüpfen?
Ich hatte bereits ein sehr produktives und inspirierendes Gespräch mit der IHK Braunschweig, in dem wir über den Ausbau unserer Zusammenarbeit gesprochen haben. Hier möchte ich anknüpfen und schnell in die Umsetzung kommen, denn ich bin überzeugt davon, dass die TU Braunschweig und die kleinen und mittelständischen Unternehmen sehr davon profitieren werden, enger zusammenzuarbeiten. Ich erachte dies als ein sehr wichtiges Element der Transferaktivitäten und möchte besonders darauf fokussieren, die KMU und die Universität in partizipativen Prozessen zu involvieren, Innovation und angewandte Forschung langfristig und auf Augenhöge zu verknüpfen.
Gerne würden wir auch noch ein paar persönliche Fragen an Sie richten.
Wie sieht bei Ihnen aktuell ein typischer Arbeitstag aus? Und was hat sich vielleicht in der Corona-Zeit verändert?
Ich habe, bevor ich nach Braunschweig gekommen bin, ein gutes Jahr fast ausschließlich im Homeoffice verbracht. Im Vergleich bin ich hier sehr viel im Büro, und es tut gut, mit Personen in Präsenz zu arbeiten (Selbstverständlich mit den gebotenen Hygienemaßnahmen und Abständen). Als Vizepräsidentin für Internationales war ich vor der Coronazeit sehr viel unterwegs. Das hat sich natürlich radikal verändert. Gerade komme ich von meiner ersten Auslandsdienstreise seit März 2020 zurück.
Ein typischer Arbeitsalltag hier in Braunschweig beginnt mit einem Kaffee und einer kurzen Absprache mit meinem Büro über die Dinge die am Tag/die in der Woche anstehen. Dann reihen sich meist die Termine aneinander, bis in den frühen Abend. Termine mit den Präsidiumskolleg*innen, mit Mitarbeiter*innen aus den Fachabteilungen, um Strategien und deren Umsetzung zu besprechen oder auch Termine mit Personen aus der Region. Ein besonderes Highlight sind auch die Termine mit neuberufenen Kolleg*innen. Es macht großen Spaß, die neuen Kolleg*innen kennenzulernen und zukünftige Ausrichtungen zu besprechen.
Wie würden Sie Ihren Führungsstil beschreiben?
Visionär, pragmatisch, entschlossen und immer kollegial und partizipativ.
Was gefällt Ihnen ganz persönlich an der Region?
Neben der Forschungsdichte und –stärke und der engen Zusammenarbeit mit der Stadt und der Industrie gefällt mir besonders die Natur! Ich bin glücklich, wenn ich morgens in den tollen Parks laufen gehe und am Wochenende in die Umgebung zum Wandern fahren kann. Toll!
Abschließend: Was würden Sie sich künftig für die Region wünschen, wenn Sie einen Wunsch frei hätten?
Ich wünsche mir, dass die Region selbstbewusster ihre Fühler in die Welt hinausstreckt und sich als global attraktiven Standort begreift. Das möchte ich gern unterstützen.