Dr. Utermöhlen: Coronakrise und Klimakrise – ein lehrreicher Vergleich

Expertenrat

06.05.2020

Die ganze Welt steht im Bann der Coronavirus-Krise – es scheint kein anderes Thema mehr zu geben. Die immensen Anstrengungen zur Bewältigung dieser „größten Herausforderung seit dem zweiten Weltkrieg“ scheinen uns aus dem Blick verlieren zu lassen, dass die größten Menschheitsprobleme unverändert der Klimawandel und die Biodiversitätskrise sind und nicht COVID-19. Welche Bezüge zwischen dieser schnell aufgezogenen Krise und den aktuellen Bewältigungsmechanismen kann man also zur Herangehensweise zur Klima- und Umweltkrise ziehen?

Verbrauchsreduzierungen sind ein temporärer Effekt

Zunächst ist dem Gedanken eine Absage zu erteilen, die aktuelle Krise sei hilfreich bei der Bewältigung des Klimawandels. Der in solchen Belangen stets schnell agierende Think-Tank Agora Energiewende hat bereits am 20. März dieses Jahres eine Abschätzung vorgenommen. Natürlich sinkt durch die Krise der Energieverbrauch. Auf dem Stromsektor werden bedingt durch die schwache Konjunktur, hohen Windertrag und attraktive Preise für Gas und die dann einsetzende Krise bereits bis Ostern 20 Millionen Tonnen weniger Treibhausgasemissionen als im gleichen Vorjahreszeitraum erwartet – je nach dem wann die Erholungsphase einsetzt werden im Gesamtjahr zwischen 30 und 50 Millionen Tonnen weniger Emissionen als 2019 auf dem Stromsektor erwartet.

Die Grundstoffindustrie ist schwer getroffen, es kommt zu einem deutlichen Rückgang von Bedarf und Produktion, so dass je nach Dauer der Krise zwischen 10-25 Millionen Tonnen weniger Treibhausgase gegenüber 2019 erwartet werden. Auf dem Verkehrssektor werden es zwischen 7 und 15 Millionen Tonnen sein – würden allerdings die aktuellen Beschränkungen ein halbes Jahr lang fortgesetzt, dann könnten es auch bis zu 25 Millionen Tonnen weniger Treibhausgasemissionen aus dem Verkehr werden. Die Abschätzung kommt zu folgendem Fazit: „Auch ohne die Corona-Krise würden die CO2-Emissionen aufgrund der Effekte der ersten 10 Wochen (warmer Winter, starke Windstromproduktion, niedrige Gaspreise) im Jahr 2020 sinken. Wir schätzen dieses „Ohne-Corona-Krisen-Effekte“ auf etwa 20 Mio. Tonnen CO2, was einem Rückgang der Emissionen gegenüber 1990 um 37 Prozent entsprechen würde. Der „Corona-Effekt“ kommt insofern auf 30 bis 100 Millionen Tonnen CO2-Minderung.“

Auch wenn das große Zahlen sind und 100 Millionen Tonnen ca. elf Prozent der deutschen Gesamtemissionen darstellen ist das selbst extrapoliert auf die gesamte Weltwirtschaft kein nennenswerter Effekt – denn er ist rein temporärer Natur. Auch nach der Krise des Jahres 2009 zeigte sich ein schneller Aufholeffekt und die jetzt messbaren Reduzierungen gehen nicht mit einem Systemwechsel und Veränderungen der Wirtschaftsstruktur einher. Darüber hinaus ist zu befürchten, dass es auch zu einer erheblichen Zurückhaltung bei notwendigen Investitionen in Klimaschutztechnologien, Energieeffizienz, Gebäudesanierungen und so weiter kommen wird. Wenn das Geld knapp ist, dann wird weder der Privatsektor noch die Industrie unbedingt in Energieeffizienz investieren. Insbesondere die Windenergiebranche lag schon vor der Coronavirus-Krise danieder, bedingt durch ein unerträgliches Gezänk um Abstandsregelungen und Partikularinteressen und fehlende Regelungen, auch für den unbedingt wichtigen Ausbau für Offshore-Windenergie – all das wird jetzt nicht bearbeitet, weil der Fokus auf der Bewältigung der aktuellen Viruskrise liegt und auch das seit Ende 2018 begrüßenswerte spürbare Engagement der Jugend mit den Fridays for Future Demonstrationen und vielen anderen Aktivitäten hat jetzt an Kraft und Aufmerksamkeit verloren.

Außerdem gibt es auch Gegeneffekte: US-Präsident Donald Trump nutzt die Corona-Krise zu Lockerungen der Umweltauflagen: Wie der Guardian berichtete, setzt die US-Amerikanische Umweltbehörde EPA, die der Kontrolle der Trump-Administration unterliegt, die Vollstreckung von Umweltrecht in Zeiten der Corona-Pandemie aus. Firmen, deren Arbeitsabläufe Luft- und Wasserverschmutzung verursachen, müssen demnach keine Sanktionen befürchten, wenn sie irgendwie behaupten können, dass die Corona-Pandemie zu zusätzlicher Luft- und Wasserverschmutzung führt.

Insofern erwarten wir durch die Coronavirus-Krise trotz des reduzierten Energieverbrauchs keinerlei positive Veränderungen.

In Belangen der Biodiversität vielleicht ein kleiner Effekt

In Belangen der Biodiversität gibt es zumindest eine kleine Hoffnung auf eine Atempause im Kleinen und in begrenzten Kompartimenten. Auch wenn uns noch keine Studien hierzu vorliegen und insbesondere die Landwirtschaft unverändert läuft, so ist zumindest vorstellbar, dass in diesem Frühjahr durch die geringeren menschlichen Aktivitäten und das geringere Verkehrsaufkommen ein klein wenig Druck in Sachen Insektensterben und Rückgang der Singvogelpopulationen von der Natur genommen wird. Ob der Effekt überhaupt messbar ist, bleibt abzuwarten.

Bewältigung der Coronakrise: Man wundert sich, was geht.

Wenden wir uns den Bewältigungsmechanismen zu: Zu sehen ist ein geradezu verwunderlicher Shutdown: Wir beobachten mit Erstaunen, was möglich ist. Nahezu alle Ladengeschäfte sind geschlossen, es gibt keine Veranstaltungen jedweder Art, es gibt Kontaktsperren, Reisesperren, Verbote von Busreisen und anderen touristischen Aktivitäten und einen zwangsweisen Konsumverzicht.

Gleichzeitig beobachten wir eine erhebliche Kreativität und Dynamik in der Wirtschaft: Automobilhersteller wie SEAT oder General Motors stellen Beatmungsgeräte statt Automobilteilen her, Siemens öffnet die digitalen Plattformen für die Produktion von Teilen in 3-D Druckern für die Medizintechnik, Textilunternehmen nähen Atemschutzmasken und Schutzkleidung an Stelle von Unterwäsche oder Sportartikeln und der Automobil-Zulieferer Bosch entwickelt einen Corona-Schnelltest. Sogar im regelungswütigen Deutschland werden Regularien vorübergehend außer Kraft gesetzt, wenn es der Bewältigung der Krise hilft: Verzicht auf Normkonformitäten und Zulassungen und vieles mehr. Das Leid und Zukunftsängste von Arbeitnehmern, Insolvenzen vieler Unternehmen, disruptive Veränderungen ganzer Branchen (nehmen wir mal den stationären Einzelhandel) – all das wird in Kauf genommen und 750 Milliarden alleine in der Bundesrepublik werden mobilisiert, um die Gesundheit der Gesamtbevölkerung zu schützen und die „Infektionskurve flach zu halten“, mithin die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen.

Wenn so viel auf einmal geht – wie kann es dann sein, dass zwei Quartale vorher Monate lang um das Klimaschutzgesetz gerungen wurde, ein marginaler CO2 Preis pro Tonne die Gemüter kochen ließ und ein Exodus ganzer Branchen prognostiziert wurde, um langsames und schrittweises Handeln zu begründen, wo eigentlich schnelles und durchgreifendes Handeln ebenfalls so wichtig wäre?

Beide Krisen erfordern Veränderung und einen „flatten-the curve“ Mechanismus bis hin zu einem stationären Zustand, einmal bei der Ausbreitung des Virus, im anderen Fall bei den Treibhausgasemissionen und dem Raubbau an der Natur. In beiden Fällen ist dieses Abflachen der Kurve mit Einschnitten, Veränderungen und Restriktionen verbunden – die sich aber als (über)lebenswichtig erweisen werden.

Es liegt auf der Hand, dass der Unterschied in der Dynamik und Vehemenz der Bewältigungs-mechanismen zwischen der Coronakrise und der Klimakrise in der menschlichen Handlungspsychologie begründet ist und an der Mittelbarkeit der Gefahr liegt: Das Virus bedroht jeden von uns oder zumindest unsere nahen Verwandten, und zwar jetzt und hier. Der Klimawandel ist bei naturwissenschaftlich-technischer Betrachtung viel bedrohlicher für die Menschheit, aber die Gefahr ist viel abstrakter und sie wirkt entfernter. Insofern ist es nachvollziehbar und einfach menschlich, dass wir angesichts der akuten und präsenten Virus-Gefahr schneller und dynamischer handeln als angesichts der Klimakrise oder der Biodiversitätskrise.

Dennoch muss man feststellen, dass das zögerliche Handeln der Weltgemeinschaft zur Rettung der Artenvielfalt und des Weltklimas nicht logisch ist im Vergleich zum drastischen und durchgreifenden Handeln zur Bewältigung dieser Viruskrise. Bitte – und deutlich unterstrichen: Das heißt keinesfalls, dass ich die Maßnahmen nicht gutheißen würde –es ist richtig, jetzt (ich schreibe diesen Beitrag am 4. April 2020) die Kontaktsperre und den Shutdown aufrecht zu erhalten, es ist richtig möglichst viele Kräfte zu mobilisieren, um Masken, Schutzmaterial, zusätzliche Beatmungskapazitäten, zusätzliche Intensivplätze zu schaffen – und auch alle Anstrengungen in Richtung. Impfstoff und Medikamente zu richten.

Besonders wichtig wäre es jetzt, die Kräfte in den medizinischen Betrieben und Pflegekräfte angemessen zu schützen und auch mal mit Sonderzahlungen zu belohnen, das sollte sich dieses reiche Land auch leisten können und natürlich der Schutz der alten und der Menschen mit Vorerkrankungen.

All das ist richtig und wichtig.

Aber unter dem Strich bin ich mehr Naturwissenschaftler und Mathematik-Beseelter und betrachte das nüchtern: Wenn derart viel Kraft und Veränderungswillen mobilisiert werden kann, um vergleichsweise eine relativ kleine Zahl von Menschen zu schützen und retten, dann wünsche ich mir eine ähnliche Kraftentfaltung gegen das viel bedrohlichere Szenario der Veränderung des Weltklimas. Werfen wir nochmal einen kleinen Blick auf die hier in Rede stehenden Zahlen:

Beim Anstieg der Meeresspiegel geht es nicht nur um ein paar Atolle, Inselstaaten und Halligen: bei ca. 1,5 Grad Temperaturanstieg sind bis zu 10 Millionen Menschen an Küstengebieten durch häufige Überflutung betroffen – werden es 2,5 bis 3 Grad werden das 170 Millionen Menschen.

Bei ca. 1,5 Grad rechnet das IPCC alle 10 Jahre mit schweren Dürren in Südeuropa, 1 bis 4 Milliarden Menschen leiden unter Trockenheit. Werden es 2,5 bis 3 wird es 20 bis 30 Prozent weniger Trinkwasser im Mittelmeerraum und im südlichen Afrika geben.

Bei 2 Grad Temperaturanstieg der globalen Mitteltemperatur ist der Rückgang der Erträge der wichtigsten Feldfrüchte in Afrika 10 bis 20 Prozent, der Rückgang der Reiserträge beträgt 5 bis 12 Prozent, es herrscht Bewässerungsmangel im Mittelmeerraum – zusätzlich zwischen 150 und 500 Millionen Menschen hungern, es erfolgt eine Steigerung der politischen Instabilitäten und bis zu 250 Millionen Menschen mehr sind fluchtgefährdet.

Was also könnten wir nach dieser Krise anders machen, was sollte sich ändern?

Aus der Kraft in dieser Krise für den Kampf gegen den Klimawandel lernen

Zum einen sollten sich unbedingt die jetzt bereits angekündigten Förderprogramme für die Wirtschaft an den Prinzipien der starken Nachhaltigkeit orientieren. Wenn Unternehmen nach der Krise Förderung und Unterstützung benötigen, dann sollte eine solche Unterstützung nur gewährt werden, wenn die Unternehmen auch bereit sind offen zu legen, wie sie ihr Geschäftsmodell umbauen wollen. Noch einmal: Wenn Unternehmen so schnell in der Lage sind andere Produkte herzustellen, warum sollen sie dann nicht in der Lage sein, ihre Produkte zukünftig schneller und stärker auf echte Kreislaufwirtschaft und Klimaverträglichkeit umzustellen?

Das gesamte Steuermodell sollte sehr viel schneller in Richtung einer höheren Besteuerung umweltschädlichen Verhaltens umgebaut werden – natürlich ohne die Gesamtsteuerlast zu erhöhen. Wenn es möglich ist, Menschen den Besuch von Freunden zu untersagen, Busreisen zu verbieten und Ausgangssperren zu verhängen, warum kann man dann zum Beispiel Flugbenzin nicht deutlich höher besteuern und Fleischprodukte höher besteuern?

Wir lernen gerade, wie man durch Gemeinsamkeit und Initiativen Probleme lösen kann. Nahezu alle jetzt Lebenden hatten das noch nie erfahren in unserer auf Individualität und Konsum ausgerichteten Spaßgesellschaft. Wenn ein Teil der jetzt entstehenden Initiativen zur Unterstützung von alten Menschen, von Obdachlosen und von sonstigen Bedürftigen übrig bleibt, um sich künftig für Reparaturservices, Unterstützung von regionalen Initiativen, Shared Economy und so weiter einzusetzen – dann ist auch ein wichtiger Schritt in Richtung nachhaltiger Gesellschaft möglich.

Nicht zuletzt ist ein Blick auf die Ursache lehrreich: Diese Krankheit ist eine Zoonose – ein respektvollerer Umgang mit der Natur, in diesem Falle Wildtieren aus entlegenen Umweltkompartimenten, hätte die Katastrophe verhindert. Ein weltweites Fortführen und Ausweiten bestehender Regeln zum Naturschutz wäre zu fordern.

Schlussendlich lernen vielleicht auch viele Menschen aus der gezwungenen Austerität und einem Leben in mehr Isolation neue Qualitäten kennen – und lernen, dass Besinnung auf das Wesentliche heißt, nicht permanent Ersatzbefriedigungen zu suchen.

Fazit

Mein Fazit ist klar: An den Folgen des Klimawandels leiden viel mehr Menschen und sterben jährlich viel mehr Menschen als an diesem Virus und insofern würde ich mir wünschen, dass einmal mit so viel Kraft und Energie wie jetzt angesichts des Virus auf die langfristig wichtigen Themen geschaut würde. Die echten Probleme der Weltgemeinschaft sind der Klimawandel und die Biodiversitätskrise, nicht das Coronavirus. Lasst uns angesichts der größeren Gefahr zumindest genauso entschieden handeln – und aus der jetzt zu sehenden Handlungsfähigkeit für die Zukunft lernen.