In seinem Urteil vom 22.08.2019 – 2 AZR 111/19 – hat sich das höchste deutsche Arbeitsgericht damit befasst, wann eine Kündigung durch Einwurf in den Hausbriefkasten zugeht.
Zunächst die Basics: Nach der ständigen Rechtsprechung des BAG geht eine verkörperte Willenserklärung unter Abwesenden i.S.v. § 130 Absatz 1 Satz 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) zu, sobald sie in verkehrsüblicher Weise in die tatsächliche Verfügungsgewalt des Empfängers gelangt ist und für diesen unter gewöhnlichen Verhältnissen die Möglichkeit besteht, von ihr Kenntnis zu nehmen. Den Satz muss man glatt zweimal lesen…
Zum Bereich des Empfängers gehören von ihm vorgehaltene Empfangseinrichtungen wie ein Briefkasten. Ob die Möglichkeit der Kenntnisnahme bestand, ist nach den „gewöhnlichen Verhältnissen“ und den „Gepflogenheiten des Verkehrs“ zu beurteilen. So bewirkt der Einwurf in einen Briefkasten den Zugang, sobald nach der Verkehrsanschauung mit der nächsten Entnahme zu rechnen ist. Doch wann ist das der Fall? Nur in den frühen Morgenstunden? Bis Mittag oder gar bis spät Nachmittag?
Das BAG: Dabei ist nicht auf die individuellen Verhältnisse des Empfängers abzustellen. Im Interesse der Rechtssicherheit ist vielmehr eine generalisierende Betrachtung geboten.
Wenn für den Empfänger unter gewöhnlichen Verhältnissen die Möglichkeit der Kenntnisnahme bestand, ist es unerheblich, ob er daran durch Krankheit, zeitweilige Abwesenheit oder andere besondere Umstände einige Zeit gehindert war. Ihn trifft die Obliegenheit, die nötigen Vorkehrungen für eine tatsächliche Kenntnisnahme zu treffen. Unterlässt er dies, wird der Zugang durch solche – allein in seiner Person liegenden – Gründe nicht ausgeschlossen. Das LAG Baden – Württemberg hatte als Vorinstanz angenommen, dass nach den gewöhnlichen Verhältnissen und Gepflogenheiten eine Kenntnisnahme von Schriftstücken bei Einwurf bis 17.00h erfolgt und daher das streitgegenständliche Kündigungsschreiben noch an dem Tag des Einwurfs zugegangen sei.
Das LAG Baden – Württemberg: Auf den Zeitpunkt der Beendigung der örtlichen Postzustellung komme es nicht an. Denn zum einen lasse sich ein solcher Zeitpunkt heute nicht mehr einheitlich feststellen. Zum anderen beruhe ein solches Verständnis auf der Annahme, dass der Empfänger zeitnah nach der Postzustellung in seinem Hausbriefkasten nachsehe, ob er Post erhalten habe. Diese Annahme entspreche nicht mehr der Wirklichkeit, da berufstätige Menschen ihren Hausbriefkasten regelmäßig erst nach Rückkehr von der Arbeit leerten.
Und hier wettert das BAG los:
„Schon nach den Zahlen, von denen das LAG ausgeht, ist nicht einmal die Hälfte der Bevölkerung überhaupt kernerwerbstätig, darunter 6,8 Mio. Personen als geringfügig Beschäftigte oder in Teilzeit mit weniger als 20 Stunden Wochenarbeitszeit. Daneben hat das BerGer. noch 5 % Nachtarbeitnehmer berücksichtigt, die nicht zu Normalarbeitszeiten arbeiteten. Auf flexible Arbeitszeitmodelle oder im Homeoffice Tätige geht das LAG nicht ein. Es begründet ferner nicht, warum die Lebensumstände der in einem „Normalarbeitszeitverhältnis“ tätigen Minderheit der Bevölkerung die Verkehrsauffassung betreffend die Leerung von Hausbriefkästen der Gesamtbevölkerung bestimmen sollen.
Darüber hinaus hat das LAG nicht bedacht, dass der Kl., an dessen Wohnanschrift die Zustellung durchgeführt wurde, nicht in Deutschland, sondern in Frankreich ansässig ist. Es kommt aber auf die Verkehrsanschauung am Zustellungsort an, so dass alle Deutschland betreffenden statistischen Werte, auf die sich das Berufungsgericht bezieht, ungeeignet sind, um das Bestehen einer bestimmten Verkehrsanschauung zur Leerung von Hausbriefkästen in der Französischen Republik, im Département Bas-Rhin oder am Wohnort des Kl. zu begründen. Dort mögen sowohl die Daten hinsichtlich der berufstätigen Bevölkerung, als auch die Zeiten für die übliche Leerung von Hausbriefkästen anders als in Deutschland oder in Baden-Württemberg zu beurteilen sein.
… Das LAG begründet ferner nicht, warum es hinsichtlich der Verkehrsanschauung überhaupt auf die erwerbstätige Bevölkerung ankommen soll.
… Auch nach den vom LAG verwendeten Zahlen handelt es sich dabei selbst unter Einschluss von Teilzeitarbeitsverhältnissen uÄ um eine – wenn auch große – Minderheit der Bevölkerung (in Deutschland). Das BerGer. blendet dabei zudem aus, dass nicht alle Erwerbstätigen in Singlehaushalten leben, sondern die Leerung des Hausbriefkastens auch durch andere Mitbewohner erfolgen kann, die nicht oder zu anderen Zeiten arbeiten, und danach möglicherweise keine erneute Leerung des Hausbriefkastens mehr stattfindet …..“
Das BAG hat die Sache zurückverwiesen – das LAG Baden – Württemberg muss nochmal ran.