AGV-Newsletter 05|25 - Zukunftsszenarien Industrie & Industriearbeit

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27.05.2025

Neue Perspektiven für Produktion, Beschäftigung und Innovation

Ein Gastbeitrag von Carsten Brandes

 

Wer von Ihnen hat schon einmal vom Normalitäts-Bias gehört? Der Normalitäts-Bias beschreibt unsere Tendenz, zu glauben, dass alles weiterhin so bleibt, wie es ist. Besonders gut lässt sich dieser Denkfehler kurz vor Naturkatastrophen beobachten – zum Beispiel bei Hurricanes. Vielleicht haben Sie sich schon einmal gefragt: Warum bleiben Menschen in ihren Häusern, obwohl alle Prognosen eindeutig zeigen, dass ein Hurricane kurz davorsteht, über sie hinwegzufegen? Es ist diese Annahme, dieses Verharren in der Phase des Leugnens: „Mich wird es schon nicht treffen.“ Oder: „So schlimm wird’s schon nicht.“

Unser Gehirn ist darauf programmiert, negative Nachrichten stärker zu gewichten als positive – ein Überlebensmechanismus, der heute dazu führt, dass wir die Welt oft düsterer sehen, als sie tatsächlich ist. Das Internet und die globale Nachrichtenflut verstärken diesen Effekt: Tagtäglich erreichen uns vor allem negative Schlagzeilen, die das Gefühl vermitteln, dass die Zukunft unaufhaltsam bergab geht. Doch diese Sichtweise greift zu kurz. Die Zukunft ist kein festgelegter Verlauf, sondern ein Gestaltungsraum. Szenarien helfen, verschiedene mögliche Entwicklungen durchzudenken – nicht als starre Vorhersagen, sondern als strategische Werkzeuge, um Chancen zu erkennen und aktiv zu nutzen.  

Ausgangslage

Industrieunternehmen, Wirtschaftsverbände und Gewerkschaften stehen vor einer tiefgreifenden Transformation. Globale Machtverschiebungen, technologische Innovationen, regulatorische Vorgaben und sich wandelnde gesellschaftliche Erwartungen verändern die Rahmenbedingungen für Produktion, Handel und Beschäftigung grundlegend. Industrieunternehmen müssen ihre Geschäftsmodelle weiterentwickeln, neue Marktchancen erschließen und ihre Resilienz gegenüber Disruptionen stärken. Wirtschaftsverbände und Kammern übernehmen als strategische Berater ihrer Mitglieder eine zentrale Rolle und müssen eine zukunftsweisende Vision für ihren Standort und ihre Branche formulieren. Gewerkschaften stehen vor der Herausforderung, die Interessen der Beschäftigten in einem Umfeld mit Automatisierung, Dekarbonisierung und neuen Arbeitsmodellen erfolgreich zu vertreten.

In dieser komplexen Gemengelage reicht es nicht mehr aus, lediglich auf aktuelle Herausforderungen zu reagieren – vielmehr müssen Unternehmen und Organisationen die Zukunft aktiv gestalten und zunehmend strategische Weichen für langfristigen Erfolg stellen.

In einem Jahr intensiver Arbeit hat Themis Foresight vier Szenarien entwickelt, die mögliche Zukunftspfade der Industrie aufzeigen. Diese Szenarien – Deeptech-Deutschland, Designed in Germany, Europäische Regional-Industrie und Local for Local – skizzieren, wie sich industrielle Wertschöpfung, Arbeitswelten und Geschäftsmodelle bis 2045 entwickeln könnten. Sie bieten Orientierung, welche Chancen und Risiken in den kommenden Jahrzehnten auftreten können und ermöglichen eine strategische Auseinandersetzung mit der Zukunft.

 

Vier Szenarien für die Industrie und die Industriearbeit von morgen

Welche Zukunftsszenarien gibt es für die deutsche Industrie – und was bedeutet das für die Menschen, die in ihr arbeiten? Die Szenarien zeigen plausible Entwicklungen für die Industrie der Zukunft und geben Unternehmen und Verbänden konkrete Impulse, wie sie diese aktiv mitgestalten können.

  • Im Szenario Deeptech-Deutschland sind Forschung und Entwicklung von Hochtechnologien und deren Umsetzung in Deutschland ein Wachstumsmotor. Eine stark automatisierte Industrie mit diversifizierten Branchen erfordert New Collar Worker, Experten und Spezialisten, während einfache Routineaufgaben weitgehend durch intelligente Automatisierungslösungen ersetzt werden.
  • Im Szenario Designed in Germany, Made in the World konzentriert sich die Industrie in Deutschland auf Forschung und Entwicklung, die den Hauptanteil der verbliebenen Arbeitsplätze ausmacht. Die Massenproduktion hingegen wird ins Ausland verlagert. Produktionsarbeitsplätze fallen dadurch größtenteils weg.
  • Die europäische Regional-Industrie konzentriert sich darauf, eine resiliente Wirtschaft aufzubauen. Es wird vor allem lokal innerhalb Deutschlands und regional in Europa produziert. Der Arbeitsmarkt bleibt stark produktionsorientiert. Manuelle Arbeit bleibt weiterhin relevant, da intelligente Automatisierung nur begrenzt umsetzbar ist.
  • Im Szenario Local for Local baut die Industrie Produktionsstandorte in jeder Weltregion auf, um die jeweiligen Märkte vor Ort zu bedienen – das wirkt sich auf vormals exportstarke Industrien aus, bei denen produktionsnahe Arbeitsplätze wegfallen. Forschung und Entwicklung bleiben zentral in Deutschland angesiedelt. Intelligente Automatisierung verringert den Bedarf an ungelernten Arbeitskräften. Die Industrie kann ihren Bedarf an höher qualifizierten Arbeitskräften decken.

 

Acht Eckpunkte aus der Analyse, die Ausprägungen der Szenarien verändern (können):

1. Ein Paradigmenwechsel inmitten einer Polykrise

Die deutsche Industrie hat viele erfolgreiche Jahrzehnte hinter sich, steht jedoch jetzt vor der Frage, ob sie lediglich auf neue Entwicklungen reagieren oder aktiv eine lebenswerte und nachhaltige Zukunft gestalten wird. Jede Branche steht dabei vor eigenen Herausforderungen, die maßgeschneiderte Strategien erfordern.

2. Die fünf Treiber der industriellen Zukunft

Demographischer Wandel, Klimawandel, geopolitische Krisen, Ressourcenverfügbarkeit und Automatisierung werden die Zukunft der deutschen Industrie maßgeblich beeinflussen. Effizientere Produktionsmethoden, resiliente Lieferketten und nachhaltige Verfahren sind der Schlüssel, um den Herausforderungen gerecht zu werden.

3. Jenseits der Deindustrialisierung – Hin zu hochwertiger Wertschöpfung

Die Auslagerung der Produktion bedeutet nicht zwangsläufig einen Niedergang. Stattdessen markiert sie den Übergang zu wissensintensiven Sektoren, in denen Deutschland durch seine Stärken in Design und Engineering punkten kann. Eine Verschiebung hin zu hochwertiger Wertschöpfung ist der Weg nach vorn. Die Zukunft der deutschen Industrie könnte dem Apple-Modell folgen: „Designed and Engineered in Germany, Produced Worldwide.“ Dies erfordert jedoch rigorose Qualitätskontrollen und kontinuierliche Innovationen.

4. Reshoring: Die Rückverlagerung der Produktion

Entgegen dem Trend zur Produktionsverlagerung ins Ausland gewinnt aber gleichzeitig Reshoring und Regionalisierung von Produktion an Bedeutung. Geopolitische Unsicherheiten, Automatisierung und gestiegene Qualitätskriterien machen die Rückverlagerung der Produktion nach Deutschland wieder attraktiver. Insbesondere in kritischen Bereichen, die unsere Grundversorgung und Wettbewerbsstellung sichern, ergibt es Sinn, sich unabhängiger aufzustellen.

5. Deeptech und Diversifizierung

Deutschland könnte sich zunehmend in Richtung Deeptech-Industrie entwickeln und seine Position in Bereichen wie Robotik, Biotechnologie oder Greentech stärken. Eine diversifizierte industrielle Landschaft erhöht die wirtschaftliche Stabilität und positioniert Deutschland in technologisch fortschrittlichen Sektoren.

6. Neue Abhängigkeiten

Mit der Digitalisierung entstehen neue Abhängigkeiten, vor allem im Software-Bereich. Anbieter von Automatisierungslösungen innerhalb der Robotik könnten Preisdruck auf die Margen ausüben – Unternehmen sollten sich über neue Abhängigkeit im Klaren sein. Auch die Sicherstellung der Grundversorgung mit essenziellen Chemikalien und Materialien wird für die Stabilität der Industrie von zentraler Bedeutung sein.

7. Neue Arbeits(zeit-)modelle und Qualifikationen

Die Grenze zwischen Blue- und White-Collar-Jobs verschwimmt zunehmend, insbesondere, wenn Industriearbeiter noch mehr zu Technologie-Dirigenten werden. Neue Industriearbeitsmodelle wie Freelancing und die Gig-Economy könnten zu einer größeren Flexibilität führen, riskieren aber auch, dass sich Industriearbeiter nicht mehr mit Unternehmen identifizieren.

8. Bildung und Nachhaltigkeit als Säulen der Zukunftsfähigkeit

Bildung ist das Fundament für Innovation und die langfristige Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie. Der jüngste PISA-Bericht zeigt, dass insbesondere Menschen mit Migrationshintergrund im Bildungssystem benachteiligt sind. Angesichts dessen, dass 40% der Kinder in Deutschland heute einen Migrationshintergrund haben, dürfen wir diese Gruppe nicht verlieren. Eine gerechte Förderung ist entscheidend, um Deutschlands Innovationskraft langfristig zu sichern. Darüber hinaus werden technologische Kompetenzen und Nachhaltigkeit bis 2045 in allen Industrieberufen eine zentrale Rolle spielen.

 

Jetzt handeln – statt abwarten

Klar wurde aber auch: Unternehmen sollten nicht auf perfekte politische Rahmenbedingungen warten – sie müssen selbst aktiv werden. Deutschland bietet nach wie vor exzellente Voraussetzungen für eine florierende Industrie. Doch es braucht gezielte Maßnahmen:

✔ Mehr Investitionen in echte Innovation, statt nur bestehende Hochtechnologien weiter zu optimieren

✔ Mehr Anreize für Eigeninitiative und unternehmerisches Denken, etwa durch Intrapreneurship und Entrepreneurs in Residence

✔ Eine Unternehmenskultur des Experimentierens, die durch gezielte Budgets gestärkt wird

Fazit: Welche Zukunft können wir aktiv gestalten? Die besten Industrienationen der Welt werden nicht durch Angst vor Veränderung, sondern durch Mut zu Innovation und entschlossenes Handeln geprägt.

 

Über den Autor

Carsten Brandes ist Partnerbeirat bei Themis Foresight und Geschäftsführer der Brandes Consulting GmbH in Peine. Er ist ehemaliger Leiter der ŠKODA Auto Academy. Er verfügt über 30 Jahre Berufserfahrung in der Industrie – davon über 20 Jahre in verschiedenen Führungs- und Managementpositionen in Deutschland und international.

Grundgedanke: Erfahrung ist der Blick in die Vergangenheit. Zukunft real werden zu lassen, geht über Erfahrung weit hinaus. Als Partnerbeirat von Themis Foresight ist Carsten Brandes in diversen Formaten der Zukunftsarbeit beteiligt.

Er begleitet Unternehmen bei der Transformation ihres Personals und ihrer Personalentwicklung. Ein Schwerpunkt seiner Arbeit ist die Fachkräftesicherung und -gewinnung.


Studie

Stöttner, Berger, Brandes, Katzer (2025). Zukunftsszenarien für die Industrie und Industriearbeit in Deutschland. Studie von Themis Foresight GmbH, Berlin.

https://themis-foresight.com/publications/zukunft-der-industrie-und-industriearbeit

Carsten Brandes
Download der Studie