"Integration ist keine Einbahnstraße": Wie internationale Fachkräfte erfolgreich ankommen

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02.12.2025

Expertin und Ver-Steh-Café-Gründerin Jana Novin im AGV-Interview

Deutschland steht vor einer der größten arbeitsmarktpolitischen Herausforderungen der letzten Jahrzehnte: dem Fachkräftemangel. Laut Institut der deutschen Wirtschaft (IW) fehlten bereits 2024 über 600.000 qualifizierte Arbeitskräfte – Tendenz steigend. Besonders betroffen sind Branchen wie Pflege, Bildung, Handwerk und IT. Bis 2035 könnten laut Bundesagentur für Arbeit sogar bis zu sieben Millionen Erwerbstätige fehlen. Schon heute kommen jedes Jahr zehntausende Fachkräfte aus dem Ausland nach Deutschland, um diese Lücken zu schließen. Doch die größte Hürde beginnt oft erst nach der Einreise: die nachhaltige Integration – beruflich, sprachlich und sozial.

Wie das gelingen kann, weiß Jana Novin, Sprachtrainerin, Autorin und Gründerin des Ver-Steh-Cafés. Mit ihrem Buch „Fließend Deutsch sprechen (B1/B2)“ und ihren Trainings begleitet sie Menschen auf ihrem Weg nach Deutschland – und unterstützt Unternehmen, die internationale Fachkräfte beschäftigen möchten. Im AGV-Gespräch erklärt sie, worauf es wirklich ankommt, warum viele gut qualifizierte Menschen Deutschland wieder verlassen – und wie Integration zu einer Haltung statt zu einem Projekt werden kann.

AGV: Was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten Schritte, damit internationale Fachkräfte sich wirklich integrieren können – im Job und im Alltag?

Integration besteht meiner Meinung nach aus 3 Komponenten: Sprachkenntnisse, ein kulturelles Verständnis und emotionale Resilienz. Letztere ist nötig, um die vielen unterschiedlichen sozialen und emotionalen Herausforderungen bewältigen zu können, welche gleichzeitig häufig unterschätzt werden. Es dauert rund zwei Jahre, bis man sich in einem neuen Land wirklich zu Hause fühlt und die tägliche Belastung, die eine Fremdsprache und eine neue Kultur mit sich bringen, kann dauerhaft nur gestemmt werden, wenn man die nötige mentale Stärke hierfür besitzt.Ein Beispiel: Ich kann im Sprachkurs super gut gewesen sein und eine Prüfung erfolgreich bestanden haben. Doch wenn ich nicht den Mut und das Selbstvertrauen besitze, mit deutschen Muttersprachler:innen zu sprechen, weil ich Angst habe, Fehler zu machen, dann hilft mir das nur begrenzt. Gleichzeitig sind diese Ängste auch berechtigt, da Muttersprachler:innen sprachliche Fähigkeiten oft unterbewusst mit fachlichen Fähigkeiten gleichsetzen.

Jana Novin

Das heißt, wenn ein:e Mitarbeiter:in merkt, dass ein:e Kolleg:in sich sprachlich nicht 100% perfekt ausdrücken kann, dann folgt der gedankliche Trugschluss, dass diese Person auch nicht 100% akkurat arbeitet. Dies ist ein unbewusster Prozess, der in der Regel unentdeckt bleibt, jedoch weitreichende Konsequenzen hat. Ein letzter wichtiger Schritt zur Integration ist die Erkenntnis Einheimischer, dass Integration keine Einbahnstraße ist. Wir müssen in Deutschland verstehen lernen, wie schwierig es wirklich ist, z.B. als Einzige:r im Gruppen-Meeting fachliche und sprachliche Kompetenzen konstant innerhalb von Sekunden zusammenfügen zu müssen, um mitreden zu können.“

Mit dem Ver-Steh-Café und Ihrem Buch „Fließend Deutsch sprechen (B1/B2)“ begleiten Sie Menschen beim Ankommen. Welche Tipps geben Sie Unternehmen, die internationale Fachkräfte beschäftigen möchten?

Für viele internationale Fachkräfte wäre es ein entscheidender Vorteil, dass sie einen Raum finden, in dem sie Fragen stellen und Unsicherheiten teilen können und dabei ernst genommen werden. Genau diesen Raum biete ich, verbunden mit praktischem Sprachtraining, im Ver-Steh-Café. Ich würde Unternehmen empfehlen, die emotionalen und sozialen Herausforderungen ihrer internationalen Fachkräfte nicht zu unterschätzen, nur weil sie schlecht messbar bzw. sichtbar sind oder weil in Deutschland die Mentalität herrscht, Berufliches und Privates zu trennen – und dieser Aspekt vielleicht eher dem privaten Bereich zugeordnet wird.

Viele internationale Fachkräfte verlassen Deutschland nicht wieder, weil ihnen ihre Arbeit nicht gefällt oder sie woanders mehr verdienen, sondern weil sie sich einsam fühlen. Der stark erhöhte Mental Load und die permanente Angst von Menschen, dass sie etwas (nicht) tun und dadurch ihren Aufenthaltsstatus gefährden, sowie das damit verbundene Stresslevel – während sie es gleichzeitig trotz unzähliger Versuche nicht schaffen, deutsche Freund:innen oder tieferen Anschluss zu finden. Diese Form der Isolation ist dauerhaft zermürbend und anstrengend.
Wenn sich Menschen hingegen emotional sicher fühlen, bleiben sie – und wachsen mit dem Unternehmen.

Wo entstehen typische Stolperfallen in der Integration – und wie lassen sich diese vermeiden?

Eine häufige Stolperfalle liegt in den Erwartungshaltungen auf deutscher Seite. Unternehmen wünschen sich optimal vorbereitete Fachkräfte, die sofort voll einsatzfähig sind.

Wenn aber jemand mit einem B2-Zertifikat ankommt und nicht so flüssig spricht, wie erwartet, führt das schnell zu Enttäuschung – dabei ist das völlig normal. Wichtig wäre hier zu verstehen, was ein B2-Zertifikat bedeutet – und was nicht. Wer außerhalb Deutschlands Deutsch lernt, hat selten Gelegenheit, Sprache im beruflichen Alltag zu üben. Daher sollte von Anfang an eingeplant werden, dass sich sprachliche und kommunikative Fähigkeiten erst im echten Arbeitskontext entwickeln können.
Unterstützung kann hier viel bewirken: etwa durch sprachliche Begleitung, klare Strukturen, Feedback auf Augenhöhe und verständliche Kommunikation im Team. Ebenso wichtig ist auch hier die emotionale Komponente: Mut, Selbstbewusstsein und Vertrauen entstehen durch positive Erfahrungen, nicht durch Druck. Gerade in einer leistungsorientierten Arbeitskultur zahlt sich frühe Unterstützung doppelt aus – sie stärkt Sprache, Motivation und Bindung und sorgt dafür, dass neue Kolleg:innen sich schneller fachlich einbringen und sozial integrieren. So entsteht echte Zugehörigkeit statt stiller Isolation.

Wie schaffen Unternehmen es, dass internationale Mitarbeitende sich nicht nur fachlich, sondern auch menschlich langfristig wohlfühlen?

Soziale Verbundenheit ist der Schlüssel: Menschen bleiben dort, wo sie sich willkommen und verstanden fühlen. Unternehmen können viel bewirken, wenn sie echte Begegnungen ermöglichen: durch aufrichtiges Interesse, Wertschätzung und gemeinsame Erlebnisse jenseits des Arbeitsalltags.
Ein wirksamer Ansatz ist, kulturelle Vielfalt sichtbar zu machen. Wenn im Team viele Kolleg:innen aus Indien oder China sind, warum nicht gemeinsam Diwali oder das Chinesische Neujahr feiern? Oder bei der Weihnachtsfeier einmal internationale Gerichte auf den Tisch bringen? Solche Gesten schaffen Begegnung auf Augenhöhe und geben internationalen Mitarbeitenden die Chance, ihre Kultur einzubringen, statt sich nur anpassen zu müssen. Darüber hinaus helfen Buddy-Programme, gemeinsame Mittagessen oder offene Austauschformate, um das Miteinander zu stärken. Entscheidend ist die Haltung: Integration bedeutet nicht, dass jemand seine kulturelle Identität aufgibt, sondern dass Vielfalt als gemeinsames Lernfeld verstanden wird.

Welche Entwicklungen oder Trends gibt es aktuell beim Thema Fachkräfteintegration – und was sollten Unternehmen jetzt auf dem Schirm haben?

In vielen Unternehmen steht die Gewinnung internationaler Fachkräfte im Vordergrund, weniger ihre nachhaltige Integration. Ich erlebe oft, dass Integration schnell als abgeschlossener Prozess verstanden wird – etwas, das mit der Vertragsunterschrift, dem ersten Arbeitstag oder dem bestandenen Sprachtest endet. Tatsächlich beginnt sie aber genau dort. Damit Integration nicht endet, bevor sie richtig angefangen hat, braucht es ein Umdenken. Unternehmen müssten weniger fragen: „Wie bringen wir die Fachkräfte schnell ins System?“, sondern eher: „Wie schaffen wir ein System, in dem sie sich fachlich und menschlich entfalten können?“ Dazu gehört, Begegnung nicht nur zufällig geschehen zu lassen, sondern bewusst zu gestalten – in Teams, in der Kommunikation, in der Art, wie Führung und Zusammenarbeit gedacht werden. Wenn Fachkräfteintegration langfristig gelingen soll, muss sie emotional, menschlich und beidseitig gedacht werden. Nicht als Projekt, sondern als langfristige Haltung im (beruflichen) Alltag.